München – Gernot Rohr, 65, ist schon wieder unterwegs: Qualifikation für den Afrika Cup mit Nigeria auf den Seychellen. Der frühere Bayern-Spieler war bei der WM in Russland neben Joachim Löw der einzige deutsche Trainer. Seit über 30 Jahren lebt er in Frankreich. In unserem Interview analysiert er das Duell zwischen Deutschland und Frankreich am Donnerstag.
-Herr Rohr, neuer Weltmeister gegen alter Weltmeister – in diesem Duell steckt unerhört viel drin.
Wir haben in der Tat ganz außergewöhnliche Vorzeichen. Frankreich will unbedingt beweisen, dass man zurecht Weltmeister ist. Didier Deschamps hat bis auf den verletzten Steve Mandanda alle seine WM-Helden berufen. In Frankreich herrscht auch das Gefühl vor, dass die deutsche Mannschaft aktuell zu packen ist. Man hat zudem vernommen, dass es im Ausland Kritik an diesem Weltmeister gab. Da sind die Franzosen erzürnt und wollen zeigen, dass diese Stimmen nicht angebracht waren und man sich den WM-Titel verdient hat.
-Begeistert hat Frankreich bei der WM selten.
Es war die kompakteste und souveränste Mannschaft des Turniers, da sollte man schon fair sein. Sie haben am besten verteidigt und am effizientesten angegriffen. Effizienz ist nun mal gefragt, wenn man so einen großen Titel gewinnen will. Teilweise war das sogar brillant, und dass Frankreich tolle Einzelspieler hat, steht ja auch außer Frage. Didier Deschamps hat sie in ein Korsett gepackt, in dem ihre Stärken voll zum Tragen kamen, ohne dass es ihren Charakter verriet. Joachim Löw ist das mit Deutschland nicht gelungen. Wer Weltmeister wird, hat ja wohl nicht ganz so viel falsch gemacht. Löw sagte ja selber, er habe Fehler begangen.
-Was kann der deutsche Fußball vom französischen lernen?
Nicht nur der deutsche Fußball, sondern auch die anderen Nationen müssen wieder mehr an ihrer Effizienz arbeiten. Die Abwehr muss stehen, daran muss sich jeder beteiligen. Dazu muss man die wenigen Räume, die sich im heutigen Fußball ergeben, blitzschnell ausnutzen. Man benötigt Spieler im 1:1, die sich schnell aus den Umklammerungen lösen können.
-Stimmen Sie ein in den Chor derer, die den Tod des Ballbesitzfußballs besingen? Nur Umschaltspiel kann nicht die Lösung sein.
Das sehe ich genauso: Das ist nicht die Lösung, das wäre nicht wünschenswert. Ich stimme in diesen Kanon auch nicht ein. Ballbesitzfußball ist nicht tot. Aber man muss flexibler werden, eine Mischung finden. Eine große Mannschaft hat den Anspruch, ein Spiel zu prägen, es zu kontrollieren. Ihr Erfolg darf kein Resultat purer Reaktion auf Fehler der anderen sein. Du benötigst Rüstzeug, um jeden Gegner zu knacken. Man muss den Ball halten und gut nutzen können. Nur Hin- und Hergeschiebe ist reizlos, aber man darf jetzt nicht sagen: Das ist alles schlecht.
-Alles beneidet Frankreich um seine Talente. Hat Deutschland da eine Entwicklung verschlafen?
Frankreich war schon immer top in der Talentförderung. In den letzten Jahren ist es aber nun besser gelungen, die Integration der Spieler mit Migrationshintergrund zu schaffen. Das Weltmeisterteam mit seinem stark ausgeprägten afrikanischem Hintergrund ist ein Symbol, und da ist man Deutschland vielleicht einen Tick voraus. Ich möchte den Fall Mesut Özil und Ilkay Gündogan nicht überbewerten. Aber in Frankreich wäre das sicher anders abgelaufen.
-Inwiefern?
In Frankreich hätte sich die ganze Mannschaft hingestellt und gesagt: Die beiden gehören zu uns. Wir sind solidarisch. Mir hat da ein Signal gefehlt aus dem Team, mit den Trainern zusammen. Die Fotos waren nicht klug, aber man hätte sie auf sportlichem Weg womöglich entpolitisieren können. Das hat der DFB ziemlich vergeigt, finde ich. Hätte die Mannschaft da mitgemacht, wäre das Thema nie so ein Begleiter geworden.
-Özil nahm bei seinem Rücktritt das Wort „Rassismus“ in den Mund.
Das war ein Fehler. So ein hartes Wort darf man nicht in den Mund nehmen. Der DFB ist bekannt für seinen Kampf gegen Rassismus.
-Sie sind in Deutschland aufgewachsen, leben seit über 30 Jahren in Frankreich, haben afrikanische Länder wie Gabun, Niger, Burkina Faso trainiert und coachen nun Nigeria. Wie erleben Sie das Thema Rassismus in diesen drei unterschiedlichen Kulturen?
Die jüngsten Eindrücke aus Deutschland zeigen, dass da in gewissen Teilen der Bevölkerung schon ein Problem ist. Deutschland muss sich nun Fragen stellen, die Frankreich schon seit einem guten Jahrhundert beschäftigen. Mit der Flüchtlingswelle seit 2015 ist es komplexer geworden. Diese Masse an Zuwanderung hat Deutschland – anders als Frankreich – bisher noch nicht so erlebt, und da ist die Mentalität mancher Deutscher einfach noch nicht so weit. Es ist ein Prozess, die Migranten auch verstehen zu lernen. Frankreich ist da wegen seiner Geschichte voraus. Es läuft gewiss nicht alles ideal, hier wählen auch 20 Prozent und noch mehr Unverbesserliche die „Front National“. Aber im Fußball hat Frankreich das Element Einwanderung im Grunde elegant gelöst. Woher die Spieler kommen, welche Hautfarbe, welche Religion sie haben, ist kein Thema bei den Leuten.
-Nach dem WM-Sieg 1998 ließ Frankreich den EM-Coup folgen. Wird das aktuelle, sehr junge Team wieder eine Ära prägen?
Ja, davon kann man ausgehen. Bei der WM in vier Jahren sind sie noch besser. Der Schnitt liegt jetzt bei 25 Jahren, und Fußballer sind mit 28, 29 auf ihrem Zenit. Zudem haben sie in Deschamps einen Trainer, der aus eigener Erfahrung genau weiß, man darf jetzt nicht nachlassen. Frankreich wird mindestens für die nächsten vier Jahre an der Weltspitze bleiben.
-Wird Kingsley Coman ein Teil dieser Geschichte werden? Der 22-jährige Bayern-Profi hat sich schon wieder schwer verletzt.
Ja, er wird in die Mannschaft hineinwachsen. Der Junge ist so begabt, er kann Frankreich noch viel geben. Auch Corentin Tolisso wird eine stärkere Rolle einnehmen. Das ist ein fantastischer Spieler, er hat durch seinen WM-Titel jetzt auch in München eine stärkere Position. Er wird seinen Weg machen, bei Bayern und der Nationalelf, ganz sicher.
-Hat Benjamin Pavard das Zeug für Bayern?
Ja, das ist ein kompletter Verteidiger. Vielseitig verwendbar, sportlich bringt er alles mit und ist auch mental sehr stark. Er hat diesen deutschen Charakter aufgenommen. Bei Frankreich ist er gesetzt – so einer schmückt jedes Team.
-Wenn Sie für Nigeria einen französischen oder deutschen Spieler aussuchen dürften – wer wär’s?
Olivier Giroud. So einen Brecher kann man immer brauchen. Kylian Mbappé würde kein Trainer der Welt ausschlagen. Aber wir bräuchten auch einen Linksfuß, das wäre Antoine Griezmann.
-Keinen Deutschen?
Manuel Neuer. Wir haben in Nigeria große Torwartprobleme. Hier wollen alle immer Tore schießen, da stellt sich keiner hinten in den Kasten.
-Wie lautete das Fazit zu Nigerias WM?
Die Leute waren sehr zufrieden. Wir waren die jüngste Mannschaft der WM, noch jünger als Frankreich. Zuhause wurde registriert, dass wir alles gegeben haben.
-Sie selbst haben Spiele noch um 3 Uhr nachts analysiert. Da liegen andere 65-Jährige im Bett.
Die Siege halten mich jung. Dazu ist die Arbeit mit jungen Menschen belebend. Und die afrikanische Seele ist auch etwas Besonderes. Meine Frau ist Afrikanerin. Ich liebe diese Mentalität, diese menschliche Wärme, diese Verspieltheit, diese Begeisterungsfähigkeit.
-Und Sie haben gelernt, auch das charmante Chaos der Afrikaner zu händeln.
Oja. Als wir zur WM geflogen sind, blieb unser Gepäck einfach vor dem Flieger stehen. 42 Koffer passten nicht mehr rein, obwohl es ein Privatflieger war. Zwei Stunden mussten wir warten und dann ohne die Sachen los. Stellen Sie sich das vor: Fußballer ohne ihre Schuhe! Einen Tag vor unserem Auftakt in Kaliningrad war dann erst alles da. Aber so etwas gehört dazu. Man darf da keine europäischen Maßstäbe anlegen.
-Wann gibt es einen Weltmeister aus Afrika?
Das ist die große Frage. Das wird noch eine ganze Weile dauern. Es fehlt noch an Organisation und Erfahrung.
-Werden Sie Nigeria bei der WM 2022 im nächsten Anlauf wieder coachen?
Wir wollen da hin, ganz klar. Unsere jungen Spieler dürfen darauf hoffen. Ich bin zwar nicht mehr so jung, aber ich traue mir das schon zu. Mein Ziel ist die WM 2022. Ich bin bereit. Die WM in Russland war so schön, sowas will ich noch einmal erleben.
Interview: Andreas Werner