Zwischen Chance und Risiko

von Redaktion

DFB-Team in München eingetroffen – Timo Werners Respekt vor Löw: „Was er alles auf sich nimmt“

Von Günter Klein

München – Die Kleinbusse, die der Fahrdienst des DFB einsetzt, haben getönte Scheiben – aber nicht extra, das ist heutzutage ja bei vielen Autos Serienausstattung. Es ist dann immer spannend, wer aussteigt: ein Spieler, mehrere, erkennt man sie auch gleich, wenn sie private Klamotten tragen, vielleicht – wie Marco Reus – die Kapuze vom Pulli schützend über den Kopf gezogen haben?

Um 11.30 Uhr kam am gestrigen Montag zum zweiten Mal der Fahrdienst vor dem Seiteneingang des Münchner Hilton-Hotels am Rande des Englischen Garten, an, der Fahrer stieg aus, ging ums Gefährt herum und öffnete die hintere Tür. So viel Stil muss schon sein, wenn man Joachim Löw vorfährt. Der Bundestrainer mag in der Kritik stehen nach einer historisch missratenen Weltmeisterschaft, er ist angeschlagen und seine Position wohl weiter in Gefahr, doch er ist immer noch der Bundestrainer.

Vor dem Hoteleingang haben die Sicherheitsleute des DFB eine Schneise festgelegt. Auf der einen Seite die Medien, die beim ersten Nach-WM-Auftritt der deutschen Fußballstars als Nationalspieler Bedarf haben an Bildern und Zitaten, gegenüber stehen die Devotionaliensammler, die Unterschriften und Selfies haben wollen: Leute, die nicht aufhören, Fans zu sein, die vor einem Nationalspieler und Bundestrainer Respekt haben und nie pöbeln werden.

Joachim Löw, so sagen die, die Ankunften des Nationalteams öfter beobachten, wähle immer den direkten Eingang ins Hotel, er grüße freundlich in alle Richtungen, sei aber zu busy, um Autogramme zu schreiben. Diesmal in München kommt er um diese Dienstleistung nicht herum. Es sind zehn Leute da, die ihm Alben und Blätter entgegenstrecken, also stellt er den Rollkoffer ab und schreibt seinen Joachim Löw auf das, was man ihm hinhält. Einer hat ein wuchtiges Buch dabei: „One Night in Rio.“ Der opulente Bildband, der beim Finale 2014 und in den Stunden danach entstand. Er enthält die Dokumente und speichert die Gefühle, die den deutschen Fußball und besonders seine Spitze durch die vier Jahre getragen haben. Doch seit der WM 2018 in Russland ist alles, was mit der WM 2014 zu tun hat, Antiquariat geworden.

An einem Montagvormittag haben nicht allzu viele Leute Zeit, der Nationalmannschaft beim Einzug ins Hotel zuzuschauen – doch es ist klar, dass man die wenigen nicht unbeachtet stehen lassen kann. Jede abschätzige Geste eines Spielers würde in den Kontext gestellt, der auch bei der WM-Analyse vorigen Mittwoch in der Allianz Arena zur Sprache kam: Die Nationalmannschaft als eigenes Universum, abgehoben, unnahbar. „Das hat mich getroffen“, sagte Oliver Bierhoff, der die Außenwirkung des Teams zu verantworten hat. Sich wieder geerdeter zu geben, das ist ein Punkt auf der Agenda für diese Woche.

Wichtiger noch ist: Welchen Eindruck hinterlässt man sportlich? Vor allem im Spiel gegen Frankreich am Donnerstag in München (20.45 Uhr). Es ist ein Pflichtspiel (auch wenn den Fans der neue Wettbewerb Nations League vom Reglement noch nicht so gut bekannt sein dürfte), und es geht gegen den Weltmeister.

Finden sie beim DFB den Übergang vom Analysieren zum Vorausblicken? Ist die WM so hinreichend aufgearbeitet, wenn der fast identische Kader nun in München statt in Eppan oder Watutinki zusammenhockt, dass sie alle sagen können: Ab sofort Neuanfang? Das wird diese Woche zeigen.

Timo Werner hat in Russland seine erste WM gespielt, auch er ist mit den Gedanken noch bei diesen nur drei Spielen, die es gab, und er hat – „natürlich“ – am Mittwoch die Übertragung von Löws Pressekonferenz gesehen. Er sagt: „Man gibt Joachim Löw zu viel Schuld. Er ist ein Supertrainer, mit ihm haben wir die beste WM-Qualifikation gespielt, die eine Mannschaft je gespielt hat.“ Gescheitert seien doch auch andere große Coaches, mit Brasilien, mit Spanien. „Und ihm ist hoch anzurechnen“, so Timo Werner, „was er alles auf sich nimmt“. Löw hat seine Einschätzungen in der WM-Nachbetrachtung als „fast schon arrogant“ bezeichnet.

Nun ist er nicht mehr der amtierende Weltmeistertrainer, die deutsche Rolle hat sich geändert, und es ist gewiss eine Fügung, in der jetzigen Situation auf den Nachfolger als Champion zu treffen. „Wir waren die Gejagten, das werden nun die Franzosen sein, vier Jahre lang“, erklärt Stürmer Werner, „und wir werden die Jäger sein“.

Für Julian Draxler, den eifrigsten Autogrammschreiber vor dem Hotel, ist das Spiel gegen Frankreich „eine Chance“. Mit einem Sieg ließe sich die Stimmung im Fußballlande aufhellen. „Wichtig ist, dass wir als Mannschaft geschlossen auftreten.“ Doch er spürt als in Paris lebender Fußballprofi auch, „dass die Franzosen mit großem Selbstvertrauen kommen werden“. In der Stärke des Gegners liegt das Risiko: Löws Elf könnte verlieren. Was dann?

Julian Draxler sagt, darüber möchte er jetzt noch nicht nachdenken. „Es sind ja noch ein paar Tage.“ Um es zu verhindern.

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