München – Roy Oliver hat gelogen. Das Auto, auf das er mit seinem AR-15, einem halbautomatischen Gewehr, geschossen hat, war nicht „in aggressiver Art“ auf ihn zugefahren. Er hatte es später aber behauptet, um zu erklären, was nicht zu erklären ist. Oliver, ein Polizist aus Dallas’ Vorstadt, war am Abend des 29. April 2017 einem Notruf gefolgt, ein paar betrunkene Jugendliche liefen umher, hieß es, mehr nicht. Als Oliver ankam, hörte er angeblich einen Schuss – und sah dann das Auto auf sich zufahren. Eine Lüge, entlarvt von der Kamera an seinem Körper. Sie hat festgehalten, das musste die Polizei zugeben, wie sich jenes Auto nicht auf ihn zu-, sondern von ihm wegbewegte. Oliver aber zielte mit seinem Gewehr, schoss, traf erst das Autofenster – und dann den Hinterkopf von Jordan Edwards, 15 Jahre alt, unbewaffnet, schwarz. Die Kugel tötete den Jungen. 246 Tage, nachdem Colin Kaepernick das erste Mal in die Knie gegangen war.
Heute beginnt die neue Saison der National Football League (NFL), der Lieblingsliga der Amerikaner. Sie verkauft ihre Spieler auf der ganzen Welt als Helden mit Helmen. Auch in Deutschland ist NFL-Football sehr beliebt, seitdem die Sendergruppe ProSiebenSat1 den Sport inszeniert. Colin Kaepernick, 30, war früher auch mal so ein Held. Doch am 26. August 2016 hat er sich während der amerikanischen Nationalhymne am Spielfeld hingekniet – und ist seither nicht wieder für sie aufgestanden. Er protestierte auf der Bühne der NFL. Gegen Rassismus, gegen Polizeigewalt. Ein Detail, das noch wichtig wird. Er musste auch nicht den Fall Jordan Edwards abwarten, um zu behaupten: „In den Straßen liegen Leichen und es gibt Mörder, die davonkommen und sogar weiter bezahlt werden.“ Seit mehr als einem Jahr ist er nun arbeitslos.
Die NFL züchtet Footballer. Wenn einer rausfällt, steigt der nächste auf, oft merkt man das gar nicht. Manche sind dann aber doch besonders, zum Beispiel Kaepernick, der Quarterback, der mit den San Francisco 49ers 2013 im Super Bowl spielte, weil er präzise wirft und für einen Spielmacher auch verdammt schnell rennt. Trotzdem hat die NFL den Spieler Kaepernick – man kann das nicht anders sagen – verstoßen, weil ihr die Größe fehlte, um Kaepernick, den Aktivisten, zu ertragen. Sie stellte sich nicht vor ihn, als Politiker und Fans ihn, den schwarzen Footballer, beleidigten. Man sollte seine sportlichen Leistungen nachträglich nicht verklären, der Beste war er nie. Doch er spielt noch gut genug, um eine Mannschaft zu verbessern. Die 49ers aber haben ihn im März 2017 aussortiert, bis heute hat ihm kein anderes Team ein Angebot vorgelegt. Die NFL hat Kaepernick von den Spielfeldern verscheucht, ist ihn aber nicht losgeworden.
Die Liga wirkt in der Hymnen-Debatte hilflos. Ihre Härte schreckt nicht ab, das haben die letzten Testspiele offenbart. Unter den Footballern hat Kaepernick noch immer Mitstreiter, die bereit sind, in die Knie zu gehen. Was macht die NFL nun? Im Mai hat sie eine neue Hymnen-Regel verschickt: Wer kniet, wird bestraft. Und wem das nicht passt, kann ja in der Kabine bleiben. Dort, wo die Kameras nicht filmen. Seit Juli aber ist die Regel ausgesetzt, die NFL tüftelt mit der Spielergewerkschaft an einer neuen Richtlinie. Mal wieder.
Das Hin und Her im Hymnenstreit passt zu dieser Liga, die ihre vielen Probleme schon immer gerne verdrängt hat. Die Spieler, die dopen. Die Profis, die durch Aggressionen auffallen, auch privat, wenn sie ihre Frauen schlagen, oder sogar ihre Kinder. Und dann gibt es noch die Studien, die immer mehr Indizien liefern, dass der Football mit seinen ständigen Karambolagen für die schwere Gehirnerkrankung CTE verantwortlich sein kann. Viele Jahre leugnete die NFL einen Zusammenhang, zahlte heimlich aber bereits Millionen-Entschädigungen. Die Liga-Anwälte versuchen gerade auch, den Fall Kaepernick leise zu lösen. Dieser klagt vor Gericht, weil er vermutet, dass sich die Teambesitzer gegen ihn abgesprochen haben. Die Liga beantragte ein Schnellverfahren, scheiterte aber. Jetzt wird’s laut – und das ist meistens schlecht fürs Geschäft.
Man darf das nicht vergessen: Die NFL ist ein Unternehmen, das Milliardären gehört. Diese Männer, mehrheitlich weiß und konservativ, finanzieren die Teams, treffen die wichtigen Entscheidungen. Von Revolution halten sie nicht viel. Zu den Protesten der Spieler sagte Bob McNair, der Besitzer der Houston Texans: „Wir können nicht zulassen, dass die Gefangenen das Gefängnis leiten.“ So denken manche von ihnen. Sie fürchten, dass ihnen Geld entgeht. Und daher auch Donald Trump.
Der US-Präsident versteht den Hymnenprotest nicht, vermutlich will er ihn gar nicht verstehen. Es sind, wie bereits erwähnt, die Details, die hier zählen. Kaepernick kniete nieder, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren. Trump aber wirft ihm vor, die Flagge und die Kriegsveteranen zu beleidigen. Wann immer ein Spieler kniet, trägt er das vor. Auf einer Bühne erklärte er im Brüllton mal, wie er mit solchen Spielern umgehen würde: „Runter vom Feld mit dem Hurensohn! Raus! Er ist gefeuert!“ Die Zuhörer johlten. Mit seiner NFL-Polemik spaltet Trump eine Gesellschaft, die sich gerade leicht spalten lässt.
Die Wutreden des Präsidenten schaden der Liga. Sie verliert Fans, Fernsehzuschauer. Das ärgert dann die Besitzer, die zum Teil mit Trump sympathisieren, ihm sogar spendeten. Doch mit ihrem hilflosen Verhalten in der Hymnen-Debatte haben die NFL-Milliardäre den Präsidenten gegen sich aufgebracht – und zugleich Colin Kaepernick ungewollt zur Kultfigur der Protestbewegung erhoben. Der Sportgigant Nike hat den Quarterback gerade zum Gesicht seiner neuen Kampagne gemacht, was Trump sofort als „furchtbare Botschaft“ auffasste. Auf seinen Internetkanälen lenkt Kaepernick den Diskurs, obwohl er nur selten eigene Beiträge verfasst. Dank der Nike-Kampagne geht sein Gesicht jetzt wieder um die Welt – mit dem Slogan: „Glaube an etwas. Auch wenn du dafür alles opfern musst.“ Es ist wie damals, als Kaepernick sich zur Hymne hinkniete. Um seine Botschaften zu verbreiten, muss er nicht sprechen.
Vor ein paar Tagen hat Kaepernick auf Twitter ein Update zum Fall des erschossenen Jungen Jordan Edwards geteilt. Der Polizist Roy Oliver ist wegen Mordes verurteilt worden, das kommt selten vor. Ein kleiner Erfolg, auch für Kaepernick, aber eben nur ein Urteil. Im Mai 2018 hat die „Huffington Post“ zusammengezählt, wie viele schwarze Menschen die Polizei in den USA getötet hat, alleine seit Colin Kaepernick im August 2016 das erste Mal in die Knie ging. Es waren: 378.