Auf der Spitze des Eisbergs

von Redaktion

Der FC Bayern steuert auf schwierigem Terrain wieder sicheren Boden an

VON ANDREAS WERNER

Athen – Die Mixed Zone, ein strategischer Schnittpunkt, an dem sich nach Sportereignissen die Protagonisten und die Reporter austauschen, ist in Athen ein charmantes Provisorium. Ein paar Zeltplanen grenzen das Terrain auf einem Stück Gehweg im Außenbereich des Haupteingangs ab, und wenn die Arbeit beendet ist, kurbeln Vereinsangestellte einige Markisen zurück wie die Kellner nach einem Strandtag auf der Dachterrasse. Die Stars stehen während der Analyse auf dem Gehweg, die Reporter wegen der Bordsteinkante eine Stufe tiefer. Da wirkten selbst Joshua Kimmich und Serge Gnabry mit für Fußballer überschaubaren Maßen (1,76 Meter, 1,73 Meter) wie Riesen. Die Fragesteller hingegen, als wären sie direkt aus Liliput angereist.

Zufall, klar, doch schelmisch kann man anmerken, dass die Bayern an dieser Versuchsanordnung ganz heimlich ihren Gefallen gehabt haben dürften. Der Haussegen zwischen Club und Öffentlichkeit hängt schief, und noch ist nicht absehbar, wann sich alles wieder rein auf den Sport reduzieren wird, zumal die Münchner auf dem Platz auch trotz der jüngsten zwei Siege keinesfalls komplett überzeugten.

Es braucht Energiespender wie Gnabry, der beim 2:0 in Athen zwar kein Tor schoss, aber beide Treffer einleitete und auch bei den Analysen die beste Vorlage zum Fazit lieferte, als er von „der Spitze des Eisbergs“ sprach. Er bezog sich zwar darauf, dass ein Tor diese Spitze des Eisbergs wäre, doch im Grunde ist das ein griffiges Bild der Gesamtsituation: Den höchsten Ausschlag der Turbulenzen erhofft man, hinter sich zu haben. Die Bayern steuern auf schwierigem Terrain wieder sicheren Boden an. „Klar, es war keine leichte Situation für uns“, so Hasan Salihamidzic, „es war wichtig, auf die Siegerstraße zu kommen.“

Erst in der zweiten Hälfte hatten die Bayern dort entscheidend Fahrt gewonnen, der Sportchef sah „eine sehr souveräne letzte halbe Stunde“, räumte aber auch ein, dass es noch nicht so war, wie man sich das wünscht: „Wir haben dominiert, aber nicht zwingend.“ Es gibt zu tun, will man in Europas Elite salonfähig bleiben. AEK konnte kein Prüfstein sein. Euphorisch rollte zur Pause die „La Ola“ durchs Stadion – die Griechen feierten sich, weil sie noch kein Tor kassiert hatten. „Wir müssen am letzten Ball arbeiten“, sagte Gnabry, „den müssen wir über die Linie drücken, dann passt es.“

Der 23-Jährige ist aktuell ein Gesicht des Aufschwungs; und dass auch seine guten Aktionen noch nicht bis ins letzte Detail zielführend sind, passt ins Bild. „Er ist ein Lichtblick, hat links richtig gut Dampf gemacht, traut sich was zu und soll genau so weitermachen“, lobte Salihamidzic, während Gnabry meinte, er habe in den letzten Wochen auch bei der Nationalelf Selbstvertrauen getankt. Ob er ein schlechtes Gewissen habe, wenn er spiele, weil dann ein Hochkaräter auf der Bank sitzt? Gnabry grinste: „Wenn ich auf der Bank sitze, ist ja auch ein Hochkaräter draußen, oder?“ Mia san mia, wie es die Bayern in ihrer jetzigen Situation gut brauchen.

Thomas Müller strahlt das Vereinsmotto auf seine Art aus, obwohl er zuletzt häufiger Leidtragender war, wenn Gnabry auflaufen durfte, auch bei der Nationalmannschaft zuletzt in Frankreich war es ja so. Für seine uneigennützige Haltung heimst der 29-Jährige seit Wochen viel Lob ein, was ein schwacher Trost sein dürfte, aber immerhin besser als nichts ist und allerorten aufrichtig klingt. Seine Einstellung sei überragend, sagte diesmal Kimmich, „er feuert uns immer alle an und hat immer einen Spruch auf Lager – obwohl jeder weiß, dass er gerne spielen würde“. Nach seiner Einwechslung in der Schlussphase habe Müller „gute Aktionen“ gehabt, meinte Salihamidzic, „alles gut“. Nach dem Abpfiff gingen Gnabry und Müller Seite an Seite zu den Fans, um sich zu bedanken. Sie scherzten miteinander, der Neuzugang kennt keine Berührungsängste. Um was es da gegangen sei, erkundigte sich ein Journalist. Gnabry klärte auf: Es sei ein Scherz gewesen, weil Müller gegen Spielende plötzlich mal auf der rechten Seite aufgetaucht war, obwohl er ja eigentlich als Linksaußen agierte. Die beiden sind derzeit auf Augenhöhe, wo doch Gnabry im Sommer noch als ein paar Nummern kleiner galt. Riesen unter sich.

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