Mutig zurück in die Normalität

von Redaktion

Vor ein paar Tagen hat Nikolai Sommer 18. Geburtstag gefeiert. Mit einem rauschenden Fest, wie junge Leute halt feiern, wenn sie volljährig werden. 70 Gäste waren da, „Wahnsinn“, sagt Nikolai, „da ging es richtig zur Sache.“ Organisiert hat er alles selbst, das macht ihm Spaß, vielleicht will er nach dem Abitur Eventmanager werden. Das könnte er sich vorstellen.

Eigentlich wollte Nikolai Skifahrer werden. Er war auf dem besten Weg, galt als eines der größten alpinen Nachwuchstalente im Deutschen Skiverband, besuchte das Christophorus-Gymnasium in Berchtesgaden, das schon so viele erfolgreiche Wintersportler hervorgebracht hat, wie Georg Hackl, Maria Höfl-Riesch, Andreas Wellinger, um nur ein paar zu nennen.

An den 11. Mai 2017, den Tag, an dem sich Nikolais Leben schlagartig änderte, erinnert er sich genau: Im Kaunertal, bei einem Lehrgang des Landeskaders, ist er beim freien Skifahren in eine Wellenbahn eingebogen, an der ersten Welle nach hinten gekippt, auf die zweite katapultiert worden und dann auf den Rücken geknallt. „Drei Minuten war ich total weg, dann habe ich sofort alles durchgecheckt, das macht man als Sportler.“ Die Beine hat er nicht mehr gespürt, konnte sie nicht mehr bewegen. Da war ihm klar: „Ich habe ich sofort an Querschnittlähmung gedacht.“ Und dann gehofft. Erst auf den Hubschrauber, der ihn ins Krankenhaus bringen sollte, dann auf eine möglichst positive Diagnose. „Manchmal ist die Lähmung ja vorübergehend.“

Die Hoffnung trog. Vier Monate verbrachte er in der Unfallklinik in Murnau, lernte, mit der Verletzung, mit seinem neuen Leben umzugehen. Und fasste sehr schnell neuen Mut. „Ich habe nicht überlegt, was ich nun nicht mehr kann, sondern was kann ich noch.“ Gut, Fußball geht nicht mehr, aber er fand viele andere Dinge, die auch sein künftiges Leben lebenswert machen. Heute sitzt einem ein junger Mann gegenüber, der so viel Zuversicht, so viel Fröhlichkeit ausstrahlt, dass man bald vergisst, dass er ein so brutales Schicksal verarbeiten musste. „Ich will“, sagt er, „mit meiner Art zeigen, dass man normal mit mir umgehen kann.“ Seine Eltern, glaubt er, hätten es schwerer gehabt, das Geschehene zu akzeptieren, „ihnen will ich helfen, indem ich zeige, dass es mir gut geht.“ Trotz allem. Er gibt nicht auf, kämpft. Das hat er gelernt als Sportler. Wochenweise fährt er zu einem Physiotherapeuten nach Baden-Württemberg, mit einer speziellen Methode soll er dort lernen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht. Irgendwann.

Nikolai hat viel Hilfe erfahren, neue Freunde gewonnen. So Felix Neureuther, der ihn in Murnau besucht hat und weiter Kontakt hält. Tobi Angerer, der frühere Langläufer, hat die Einnahmen eines Charity-Golfturniers gespendet, Martin Braxenthaler, der siebenfache Paralympics-Sieger auf dem Monoski, „hat sich sofort bei meinen Eltern gemeldet“. Nicht nur sportlich hat er Nikolai unterstützt, ihn zurück in den Schnee geholt, auch für den Umbau des elterlichen Hauses in Kirchanschöring hat er wertvolle Tipps gegeben. Der Schulleiter des Christophorus-Gymnasiums, Stefan Kantsperger, hat ihn noch in der Klinik angerufen. Und ihm versprochen: Obwohl er nun kein förderungswürdiger Sportler mehr war, dürfe er hier natürlich sein Abitur machen. „Keiner darf verloren gehen“, lautet das Motto der Schule.

Gerade rechtzeitig ist das „Haus der Athleten“ fertig geworden, barrierefrei, um künftig auch körperbehinderte Sportler aufnehmen zu können. Hier bewohnt nun Nikolai ein eigenes Appartement, mit Kochnische, Dusche und WC, er freut sich jedes Mal, wenn er nach dem Wochenende zurück nach Berchtesgaden kommt. Unter Sportlern fühlt er sich wohl: „Man merkt, dass hier alle ähnlich ticken, die gleichen Interessen haben.“ In seiner Klasse ist Nikolai beliebt, er gilt als Spaßvogel, auch jetzt, da er im Rollstuhl sitzt.

Nikolai Sommer hat wieder Pläne, blickt gespannt in die Zukunft. Er freut sich auf den Schnee, tolle Tage in den Bergen. Die ersten Trainingseinheiten auf dem Monoski hat er unter Anleitung von Martin Braxenthaler hinter sich, „da kannst du das normale Skifahren völlig vergessen. Die Bewegungsabläufe sind total anders.“ Er, der so flott auf zwei Skiern unterwegs war, ist auf dem Monoski erst mal wieder Anfänger. Von den Paralympics spricht er noch nicht, „ich setze mir erst kleine Ziele, die auch erreichbar sind.“ Im kommenden Winter beginnt er mit dem Stangentraining, will ein paar kleinere Rennen fahren. Einfach nur zurück in die Welt, die auch vor dem Unfall seine Welt war.

Mit Basketball hat er angefangen, obwohl er vor dem ersten Mal schon großen Respekt hatte: „Da geht es ganz schön zur Sache.“ Er braucht den Sport, jetzt vielleicht noch mehr als vorher. „Sport“, sagt er, „ist Therapie, da kann man abschalten, mal an was anderes denken. Man fühlt sich einfach besser.“ Der Sport habe ihm auch geholfen, wieder Mut zu fassen, „man lernt als Sportler, mit Rückschlägen umzugehen, lernt aber vor allem, immer nach vorne zu schauen. Schon im Krankenhaus habe ich wieder an Sport gedacht.“

Warum ich? „Es gibt keine Antwort“

Natürlich hat auch er sich gefragt: Warum ich? „Damit aber habe ich nach zwei Tagen aufgehört, denn es gibt einfach keine Antwort.“ Natürlich hat auch er schlechte, äußerst schlimme Phasen hinter sich, „das ist normal, dass man an manchen Tagen auch nur heulend im Bett liegt. Es wird aber stetig weniger, ist praktisch komplett weg.“ Die Zeit hat ihn menschlich geprägt, er hat gelernt, sich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren, „Dinge, die wirklich bedeutend sind“. Die Familie ist mehr in den Vordergrund gerückt, „man hat erfahren, wer die wirklichen Freunde sind“. Das Umfeld, sagt er, habe sich verändert: „Aber ins Positive.“

Neulich hat er vom Unfall der Rad-Olympiasiegerin Kristina Vogel gelesen, von ihrer positiven Art, mit ihrem Schicksal umzugehen. „Ich hoffe, sie findet ihren Weg.“ Er hat beschlossen, ihr zu schreiben, „wenn es wieder ruhiger wird um sie. Momentan bekommt sie sicher jede Menge Post.“ Gut kann er sich vorstellen, dass auch sie ein ähnliches Ziel verfolgt wie er, er will anderen Betroffenen Mut machen, ihnen sagen: „Habt einfach Spaß, versucht, normal zu leben.“

Hier oben, im Christophorus-Gymnasium, findet Nikolai diese Normalität. Der Führerschein, den er seit kurzem hat, hat ihm ein Stück Freiheit zurückgegeben, das bedeutet ihm viel. 2020 wird er hier Abitur machen, der Unfall hat ihn Zeit gekostet. Er hat viel auf- und nachgeholt, „die Schule“, sagt er, „ist für mich viel wichtiger geworden, ich muss noch mehr tun, denn als Rollstuhlfahrer hast du eben nur begrenzte Möglichkeiten im Berufsleben.“ Die Schule unterstützt ihn nach Kräften, gerade ist man dabei, auch das Schulgebäude barrierefrei zu machen. Man hat sich nicht nur die Förderung des Leistungssports auf die Fahnen geschrieben, sondern neuerdings auch Inklusion. Eine Win-win-Situation, wie Angelika Hackner, die Internatsleiterin, erklärt: „Wir achten darauf, dass die nicht-behinderten Jugendlichen lernen, die behinderten zu integrieren, für einander da zu sein, sich zu unterstützen.“

Nikolai Sommer jedenfalls fühlt sich wohl unter den Sportlern. Mitleid ist das, was er am wenigsten braucht. Und das zeigt er, mit seiner lockeren, unkomplizierten Art, die leicht vergessen lässt, dass er im Rollstuhl sitzt. Nikolai schaut nach vorne, mit so viel Optimismus, den viele „normale“ Menschen nicht haben. Ein leuchtendes Vorbild für alle, die sich wegen vieler kleiner Nichtigkeiten ihr Leben viel zu schnell vermiesen lassen.

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