Waging – Jetzt, da er keine Spieler mehr scheuchen muss, scheint Werner Lorant ganz bei sich angekommen zu sein. Er schwimmt sommers viel im Waginger See, wo er sein spätes Glück gefunden hat (Freundin mit zwei schulpflichtigen Kindern, Hund, Dachwohnung auf dem Campingplatz). Gerne sitzt er auch im Tretboot und lässt die Kulisse der Chiemgauer Alpen auf sich wirken. Mit Fußball hat er nur noch am Rande zu tun – wenn er die Spiele seines Ex-Clubs im „Löwen-Stadl“ eines örtlichen Fanclubs anschaut, wenn er nebenan eine Runde Fußballgolf spielt – oder sich zu einem Aushilfstrainerjob breitschlagen lässt wie 2015 in seiner Gastgemeinde und kürzlich noch mal beim österreichischen Drittligisten Hallein (Salzburger Land).
„Es ist wie jeden Tag Urlaub hier“, sagt Lorant, während er sich im Seestüberl zwei Mittags-Weißbier gönnt. Der 70. Geburtstag an diesem Mittwoch? „Interessiert mich nicht“, hätte er früher gesagt. Jetzt lacht er milde und erklärt, warum er heute auf eine größere Feierlichkeit verzichten wird: „Was soll ich dann erst machen, wenn ich 80, 90 und 100 werde?“ Biologisches Vorbild ist seine Mutter Gertrud, die kürzlich 99 geworden ist. Auch Werner Lorant sagt: „Mir tut nix weh, ich nehm’ keine Tabletten. Ich bin jetzt Rentner und genieße das ruhige Leben hier.“ Diesen Eindruck vermittelt er auch im großen Interview, zu dem er unsere Zeitung empfangen hat.
Herr Lorant, wer Sie von früher kennt, hätte nicht erwartet, dass Sie das können: einfach nur das Leben genießen . . .
Warum nicht? Ich bin jeden Tag an der frischen Luft – mit meinem Hund, den ich aus einem spanischen Tierheim geholt habe. Was will man mehr? Der Arzt hat gesagt: Du bist ein junger Bursche. Das sind die Gene von meiner Mutter. Als sie 95 wurde, haben wir ihr das Fahrrad weggenommen. Damit ist sie immer zum Einkaufen gefahren – über eine viel befahrene Straße, mit Einkaufstaschen am Lenker. Jetzt geht sie mit ihrem Rollator, den lässt sie sich nicht wegnehmen.
Und Sie: Wie fühlen Sie sich als Rentner?
Wunderbar! Es fragen immer mal wieder Berater an, wie’s aussieht, ob ich Lust hätte, dies oder das zu machen. Aber ich fahr doch nicht nach Burghausen viermal die Woche . . . Nein, das will ich nicht mehr.
Das heißt, Wacker Burghausen wollte Sie als Trainer für die Regionalliga?
Sie haben sich erkundigt, ja. Wenn ich einem Verein helfen kann, dann mach ich das. Aber nur für drei, vier Monate hier in der Gegend, dann reicht’s mir wieder.
Und Ihr Ex-Club? Stimmt es, dass Sie lange auf einen Job bei 1860 gehofft hatten – zum Beispiel als Sportdirektor?
Ja, das hätte ich gerne gemacht. Der Investor war sogar mal da, um mit mir darüber zu sprechen . . .
Hasan Ismaik ist nach Waging gereist, um Ihnen einen Job anzubieten?
Nicht er selber, aber einer aus seiner Familie.
Bruder Abdelrahman? Cousin Noor Basha?
Ja, der. Ich hab dem Basha aber gesagt: Hört auf mit dem Scheiß! Ich will die ganze Verantwortung – oder nix. Ohne mache ich so was nicht.
Wie eng ist denn noch Ihr Bezug zu 1860?
Sechzig, tut mir leid, aber das ist für mich Rumpelfußball, was die spielen. Aufsteiger – wenn ich das schon hör’. Wir sind auch aufgestiegen – direkt in die 2. Liga und noch mal hoch. Ich ärgere mich, wie neulich gegen Halle (beim 1:1/Red.). Keine einzige herausgespielte Torchance. Hallo! Zuhause! Da müssen doch alle Angst haben.
Woran liegt’s?
Zu wenig Spielertypen in der Mannschaft. Mölders ist einer. Aber das reicht nicht.
Ärgert es Sie auch, weil nicht mehr viel von Ihrem Lebenswerk übrig geblieben ist? Ab wann ging’s aus Ihrer Sicht bergab?
Nach Leeds (unglückliches Aus in der Qualifikation zur Champions 2000/01/Red.). Da hätten wir weitermachen müssen. Aber Wildmoser ist es nur noch ums Stadion gegangen. Unsere regelmäßigen Treffen am Dienstag sind ausgefallen. Ohne Sechzig wäre die Arena nicht gebaut worden. Bayern hat 1860 benutzt, aber das ist Schnee von gestern. Das Stadion war für mich der Knackpunkt.
In der Folge ging 1860 das Geld aus musste sich 2011 auf Ismaik als Retter einlassen . . .
Ich war immer gegen den Investor. Ich kenn’ die Araber, die Mentalität. Die sind schnell beleidigt. Streitgespräche mit denen sind nicht möglich. Klar hätte ihn der Verein mehr streicheln müssen. Jetzt musst du halt schauen, wie’s weitergeht. Mit der Brechstange wird’s nie was im Fußball.
Sechzig hat Ihre Karriere geprägt, doch danach hatten Sie auch noch viele andere Stationen . . .
Ich hatte eine wunderschöne Zeit in Istanbul, das ist eine Weltstadt. Die kennen mich heute noch, wenn ich durch die Straßen laufe. Manchmal fliege ich für zwei Tage hin. Damals, als wir Galatasaray im Derby 6:0 besiegt hatten, war drei Tage Party bei Fenerbahce. Aber Geduld ist ein Fremdwort dort.
In China waren Sie auch, zumindest für ein paar Monate.
Allein die Esskultur! Muss man mal mitgemacht haben.
Was kam denn so auf den Tisch: Schlange? Hund?
Nicht bei mir. Hund schon zweimal nicht! Aber als es mal nicht so gelaufen ist, kam der Mannschaftskapitän zu mir, der konnte ein bisschen Deutsch: „Trainer, wir müssen Hund essen gehen. Wir sind müde!“ – Sag ich: „Dann geh nach Hause und schlaf!“ – „Nein, Trainer, wir müssen Hund essen. Weil der Hund kann immer laufen.“
Sie waren in Shenyang, einer vergleichsweise kleinen chinesischen Großstadt mit nur knapp fünf Millionen Einwohnern.
Was da für ein Verkehr ist, wie viele Menschen – unfassbar! Aber das Schlimmste ist: Die Chinesen wollen jeden Tag zweimal trainieren!
Ist das nicht löblich?
Scheiße ist das! Du musst doch auch mal ausgeruht sein. Du kannst doch nicht die ganze Woche den Ball am Fuß und im Kopf haben. Zu meiner Zeit waren auch viele Brasilianer drüben – die verrecken da. Die sind das nicht gewohnt. Und dann die Fliegerei. Von 30 Grad in den Osten, wo Schnee liegt. Das ist viel zu groß. Eigentlich müssten sie zwei Ligen haben.
Wie war Iran?
Wieder ganz anders. Du konntest nicht um 12 Uhr mittagessen, weil da alle auf ihren Teppich müssen.
Haben Sie sich den Sitten dort angepasst?
Die haben ihre Kultur – ich hab meine eigene. Da musstest du alles verstecken. Du hast zwar einen Dolmetscher gehabt, der hat dir mal zwei Bier mitgebracht, aber das durfte keiner sehen.
Sogar in Unterhaching waren Sie kurz.
Da hab ich mich breitschlagen lassen.
Obwohl damals noch nicht Manni Schwabl das Sagen hatte. Denken Sie eigentlich auch wie viele 1860-Fans, dass er Präsident beim falschen Club ist?
Schwabl war mein Spieler, aber das wäre nichts für den. Du brauchst mal wieder einen richtig Verrückten.
Sie meinen: einen wie Karl-Heinz Wildmoser damals. Hatte Ihre Freundschaft zu ihm nicht gelitten durch den Rauswurf?
Gelitten? Ach was! Nein, ich war auch auf seiner Beerdigung. Leider ist er viel zu früh gestorben. Wenn ich in München bin und Zeit hab, dann geh’ ich zu seinem Grab auf dem Ostfriedhof . . .
Um ihm nahe zu sein?
Weil sich das gehört! Ich stelle mich hin, denke daran, wie er sich immer aufgeregt hat – und dann geh’ ich wieder.
Also stimmt das mit der Männerfreundschaft. Wenn die sogar den Tod überdauert . . .
Ja, das war eine richtige Männerfreundschaft. Ich hab ganz am Anfang eine Ansage gemacht: „Pass auf, damit du Bescheid weißt: Ich bin fürs Sportliche verantwortlich, du für den Rest!“ Bei mir mischt sich keiner ein.
Und wie war das bei geplanten Spielertransfers?
Peter Pacult zum Beispiel. Wollte er nicht. Ich hab gesagt: Den holst du sofort! Und er war dann ja auch nicht der schlechteste Stürmer.
Hatten Sie eigentlich Lieblingsspieler?
Darfst du nicht haben. Klar hatte ich zu Bernd Winkler oder Lutz Braun ein besonderes Verhältnis, wenn man sich so lange kennt (noch aus Begegnungen in den unteren Ligen/Red.). Alles schön und gut, aber dann musst du einem Lutz auch sagen: Reicht nicht für die Bundesliga. Hart, aber kein Problem. Wir telefonieren heute noch.
Brauchen Spieler generell eine harte Hand?
Wer nicht laufen will, muss leiden. Mich ärgert, wenn einer sein Potenzial nicht ausreizt. Holger Greilich zum Beispiel: Hätte das Zeug zum Nationalspieler gehabt. Oder Elvis Brajkovic: Riesenkicker, aber eine faule Sau. Du musst auch hart zu dir selber sein.
Es heißt, dass Sie in Ihren zehn Jahren bei 1860 zweimal den Absprung geprobt haben – bei Angeboten aus Stuttgart und Frankfurt.
1997 hatte ich mich mit Mayer-Vorfelder an der Autobahn getroffen (damals Präsident des VfB/Red.). Aber das war noch nicht sehr weit. Ich hab mich auch wohlgefühlt in München, warum hätte ich gehen sollen? Frankfurt hätte ich schon gerne gemacht, aber auch da hat mich Wildmoser nicht gehen lassen.
Erstaunlich eigentlich, dass Sie immer nur Vereinstrainer waren, nie Nationaltrainer.
Anfragen gab es, zum Beispiel von der Tschechoslowakei. Aber Nationaltrainer, das ist ein ganz anderer Job.
Könnten sie in der jetzigen Zeit noch Trainer sein?
Sicher. Auch in der Bundesliga. Warum nicht? Der Jupp (Heynckes) hat doch auch gezeigt, dass er’s noch kann.
Mit der modernen Spielergeneration hätten Sie kein Problem?
Fragen Sie die Spieler! Die ersten zehn Tage sind schwer für die Jungs. Das geht schon mit der Pünktlichkeit los. Bei mir ist auch Handyverbot – in der Kabine und in der Vereinsgaststätte. Die sollen sich unterhalten. Auch zu Hause wird mir viel zu viel rumgedaddelt – bis ich mal gesagt habe: „Her damit!“ Dann war das Handy zwei Tage weg – und zwei Tage war schlechte Laune, das glauben Sie nicht!
Taktisch sind Sie noch auf der Höhe?
Ich hab doch schon damals Dreifünfzwo spielen lassen. Da hab ich drei offensive Mittelfeldspieler plus zwei Stürmer. Da muss der Gegner erst mal mit zurechtkommen.
Gibt es einen deutschen Club, der Ihnen imponiert?
Frankfurt gefällt mir sehr gut im Moment, vom Tempo her, vom Fußball. Die spielen auch mit drei hinten. Hütter ist ein sehr guter Trainer, der hatte überall Erfolg.
Und sonst?
Dortmund hat’s auch gut hingekriegt mit den ganzen jungen Kerlen. Die Bayern sind viel zu alt. Ribery, Robben – alles Opas. Ich hätte nichts dagegen, wenn es mal einen anderen Meister gibt.
Was denken Sie generell: Wohin bewegt sich der Profifußball?
Es ist viel zu viel Kommerz. Jeder Scheiß kommt im Fernsehen. Es wird alles aufgebauscht bis zum Gehtnichtmehr. Das langweilt.
Ihre Meinung ist ja nach wie vor gefragt. Auch in Waging am See auf dem Campingplatz?
Im Sommer geht’s schon ziemlich rund: „Hast du noch Autogramme?“ Einladungen über Einladungen. Wenn ich alle annehmen würde, wäre ich jeden Abend besoffen. Heutzutage geht’s auch viel um Fotos. Da musst du aufpassen. Die knipsen dich, ohne zu fragen. Ab und zu scheiß ich einen zusammen. Aber sonst ist es wie Urlaub. Das ist jetzt meine Heimat hier. Es ist wunderschön!
Interview: Uli Kellner, Ludwig Krammer