Gelsenkirchen – „Tja“, sagte der eine der beiden Stadionsprecher, die der DFB für sein Länderspiel auf Schalke engagiert hatte, „es ist und bleibt eben ein Seuchenjahr“, meinte der andere. „Es hat zum Jahr gepasst, dass wir das Spiel nicht zu Ende kriegen“, erklärte hinterher ein schon in Zivil gewandeter Marco Reus bei der nächtlichen Abreise zurück in die Vereine, die Bundesliga, die andere, die bessere Welt.
Nationalmannschaft 2018. Ein Jahresrückblick, der mehr ARD ist als RTL. Schwere Inhalte, wenig Vergnügliches.
Es war alles ganz anders gedacht: Joachim Löw hatte die größte Spielerauswahl aller Zeiten. Die alten Stars, die von der WM 2014 noch übrig waren, dazu die nächste Generation, die sich beim Confederations Cup präsentiert hatte. Löw und sein Kompagnon Oliver Bierhoff standen für Weisheit. Sie würden nicht scheitern wie frühere Weltmeisterteams seit 2002 in aller Regelmäßigkeit, meist sogar schon in der Vorrunde (Frankreich, Brasilien, Italien, Spanien). Sie hatten das Wissen der Fußballwelt gesammelt, der DFB wird ja auch eine Akademie betreiben, in deren Thinktank der Fußball der Zukunft ersonnen wird. Im WM-Trainingslager in Südtirol Ende Mai saß der Spieler Julian Draxler auf dem Pressekonferenzpodium und sagte: „Dass wir in der Vorrunde rausfliegen, das ist ausgeschlossen.“
Die Mannschaft fühlte sich sicher, auch als die Testspiele stockend verliefen, wollte sie das Prinzip Selbstvertrauen nicht aufgeben. Draxler erzählte in einem Interview gelassen, dass er in seinen Spielen auch gut riechen wolle und daher Parfüm auftrage.
Wo ist das Projekt WM, das das Jahr 2018 bestimmte, gekippt? Rückblickend wahrscheinlich zwei Tage vor der Bekanntgabe des 27er-Kaders im Dortmunder Fußballmuseum, als die Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan in London dem türkischen Autokraten Erdogan ihre Aufwartung machten. Das Thema überforderte den DFB, Bierhoff blamierte sich mit einem „Jetzt muss es auch mal gut sein“-Bastawort – danach ging es richtig los. Die Leitung der Nationalmannschaft setzte darauf, dass das Sportliche stärker sein würde. Doch der WM-Auftakt missglückte mit dem 0:1 gegen Mexiko – und man bekam auch in Russland mit, wie in Deutschland die Kommentatoren sich an Özil abarbeiteten.
Bei früheren Turnieren hätte die Mannschaft sich gerafft, es hätte sich eine Dynamik entwickelt, mit der es Richtung Finale gegangen wäre – doch darauf, dass Geschichte festen Regeln folgt, war kein Verlass mehr. Der deutsche Fußball erlebte die Katastrophe. Die Debatten des Sommers: um Watutinki, den unsinnigen Löw-Vertrag bis 2022, Reinhard Grindel als Problem-Präsidenten, das Werbe-Prädikat „Die Mannschaft“. Schließlich warf Özil mit seinem Rücktritt noch das Thema Rassismus auf. Über die Mannschaft hieß es, sie bestünde aus zwei Fraktionen, die sich Kartoffeln und Kanaken nennen.
Von den angekündigten „tiefgreifenden Veränderungen“ (Löw, als er sich zum Weitermachen entschied) ist der DFB weit entfernt. Er hat alles über sich hinwegziehen lassen. Modifiziert wurde nur der Spielstil der Mannschaft – aber auch erst als Folge des nächsten Schocks, des Versagens in der Nations League. In der lief das Team wie bei der WM früh hinterher. Doch die Spieler können nun als Indiz des Wandels die vergangenen drei Spiele benennen: 1:2 in Frankreich, 3:0 gegen Russland, 2:2 gegen die Niederlande. „Das geht in die richtige Richtung“, sagt Toni Kroos. Vorne spielen nun Serge Gnabry, Leroy Sane und der von der WM bekannte Timo Werner, sie sind jung und schnell, eine DFB-Elf braucht nicht mehr 70 Prozent Ballbesitz, mit denen sie sich nur selbst lähmt.
Es geht aufwärts, „aber nicht gleich zurück in die Weltspitze“, so Thomas Müller, der sein 100. Länderspiel bekommen hat. Trotz allem: Über der Nationalmannschaft lastet dieses Jahr 2018, „de facto statistisch das schwächste der Geschichte“ (Müller). Er kämpft um die Leichtigkeit, doch sie scheint abhanden gekommen: „Ich bin heute nicht aufgestanden, um mich über mein 100. Spiel zu freuen, sondern um das Gefühl eines Sieges zu genießen. Wir hätten ihn verdient gehabt, aber es passt zu 2018. Achtzig Minuten und ein paar zerquetschte verteidigen wir gut, zeigen erfrischende Angriffe, und wie im schlechten Film steht es 2:2, und der Schiri pfeift ab.“
„Es war nicht so, dass die Niederländer den absoluten Druck gemacht hätten“, analysierte Torwart Manuel Neuer und kam aufs Ausgleichstor zu sprechen: „Das ist nicht mal eine besondere Flanke, doch Josh (Kimmich, d. Red,) kommt nur so eben mit dem Kopf ran, van Dijk macht den Ball mit dem Schienbeinschoner rein.“ So ist es weiterhin: Die anderen schießen irgendwie ihre Tore, die Deutschen lassen ihre Chancen liegen: Sie hätten längst 3:0 führen müssen.
Die Mannschaft arbeitet an sich. Sie hat sich einen Verhaltenskodex gegeben, Thomas Müller versichert, „dass wir füreinander einstehen“. Er lobt die Möglichkeiten, die man mit den drei superflinken Stürmern hat – wohlwissend, dass ihn das seinen Platz gekostet hat. Aber es muss weitergehen, er will die Zukunft mitgestalten, und Manuel Neuer sagt mahnend: „Es ist nicht alles katastrophal.“
Vier Monate ist nun Nationalmannschafts-Pause, 2019 wird es Änderungen geben. Ein anderer Wettbewerb kommt, die EM-Qualifikation (Auslosung am 2. Dezember), und neue Werbepartner werden für eine andere Optik sorgen. Am Montag hat sich nach 46 Jahren Mercedes verabschiedet, die Pressesprecherin, die zwei Jahrzehnte mit dem DFB reiste und den Spielern immer Autos besorgte, hat sich verabschiedet. Die toughe Frau weinte. Es passte zu 2018.