München – Stefan Effenberg verfolgt die Bundesliga als Experte besonders intensiv. Der langjährige Kapitän des FC Bayern sitzt sonntags in regelmäßigen Abständen mit in der Runde, wenn ab 11 Uhr beim „Check24 Doppelpass“ von „SPORT1“ die Spiele analysiert werden. Im Interview sagt der 50-Jährige, was er in der Rückrunde erwartet.
Herr Effenberg, 2018 lagen Sie zum Leidwesen der Fans richtig, als Sie ausdrücklich vor der WM-Vorrundengruppe warnten. Haben Sie für 2019 auch eine düstere Prognose? Dann bringen wir es doch gleich hinter uns . . .
(grinst) Ich glaube, man hat durch die WM erkannt, dass im deutschen Fußball in letzter Zeit einiges schiefgelaufen ist. Danach kam ja sogar noch der Abstieg in der gewöhnungsbedürftigen Nations League. Manchmal muss man Nackenschläge einstecken, um aufzuwachen. Ich bin überzeugt, dass der DFB daran arbeitet, dass alles wieder in normales Fahrwasser kommt. Da 2019 kein Turnier ansteht, brauchen wir jetzt noch keine neue Prognose.
Haben Sie vielleicht, um positiv nach vorne zu schauen, schöne Prognosen? Dem FC Bayern trauen viele zum Beispiel gegen Liverpool nichts zu.
Da schere ich aus. Wer sagt, Bayern hat gegen Liverpool keine Chance, hat keine Ahnung. Der FC Bayern hat bei zwei K.o.-Spielen gegen jeden Club der Welt immer eine Chance. Liverpool hat enormen Respekt vor Bayern. Ich sehe keinen Anlass, Liverpool über München zu stellen.
Vor einem Jahr konnte man die Meisterschale zu Weihnachten an die Säbener Straße schicken. Welche Adresse schreiben wir heuer auf das Paket?
(überlegt lange) Die Vorteile liegen natürlich bei Dortmund. Aber der FC Bayern als Jäger ist sehr unangenehm. Da schaust du öfter als bei einem anderen über die Schulter. Mir hat Bayerns Spiel in Frankfurt imponiert: Dortmund hatte vorgelegt, und die Eintracht musst du erst mal knacken. Es gibt noch ein Duell in München, das rechnen die Bayern für sich, so ticken sie, das macht sie aus. Dann sind es nur noch drei Punkte. Ich würde Bayern nie abschreiben. In der Hinrunde waren zu viele Münchner nicht bei 100 Prozent. Du kannst zwei, drei auffangen, aber nicht so viele. In der Rückrunde werden sie nicht mehr so kollektiv wegdämmern. Ich würde heute nicht unterschreiben, dass Dortmund Meister wird.
Niko Kovac sagte, in München gingen alle davon aus, man wird Meister.
Gerade nach dieser harten ersten Zeit ist das eine imposante Kampfansage, mit der er ein Zeichen setzt: Dieser Mann will etwas bewegen. Der gibt sich nicht auf. Sechs Punkte? Für Bayern als Team ist das doch aufholbar. Ich bleibe dabei: Auf diese Bayern muss Dortmund höllisch aufpassen. Dass sie so viele Punkte liegen gelassen haben, daran sind sie selber Schuld. Und das ist den Spielern voll bewusst, das hört man aus jeder Aussage – die wissen, sie haben bei Weitem nicht abgerufen, was sie spielen können. Das passiert ihnen nicht noch einmal. Da sind sechs Punkte wirklich nicht die Welt.
Andererseits ist gleich der Start in Hoffenheim gefährlich – da ein Punktverlust, und man hat sofort einen Rohrkrepierer.
In den ersten Spielen geht es nur um Ergebnisse. Ich will da nicht für Hurra-Fußball gelobt werden. Da will ich nur das nackte Ergebnis. Ich bin sicher, dass die Bayern in Hoffenheim gewinnen. Sicher noch nicht mit ihrem besten Fußball, doch das ist egal. Eines ist klar: Neun Punkte Abstand wären schwer aufzuholen. Das darf nicht passieren.
Momentan herrscht die Sichtweise vor, dass der BVB einiges besser macht als der FC Bayern.
Dortmund hat mit Matthias Sammer und Sebastian Kehl hohe Fachkompetenz geholt. Sammer steuert diesen wertvollen Blick von außen bei. In einem Verein hast du immer deinen inneren Zirkel, du wirst in diesem Kreis nie richtig objektiv sein. Wenn einer eine Außenansicht im Sinne des Vereins reinbringt, nehmen Diskussionen andere Wellen an. Wenn ich für Bayern arbeite, fahre ich jeden Tag zur Säbener Straße und habe die Vereinsbrille auf. Da sehe ich vieles nicht mehr so, wie es ist. Und: Ich sage auch nicht, wenn mir mal was auffällt. Weil mein Kreis um mich herum ja auch die Vereinsbrille trägt und mich im Zweifel dann anschießt.
Wird das Dortmunder Modell mehrheitsfähig?
Ich bin überzeugt, dass sich in den nächsten drei Jahren sehr viele Bundesligisten so aufstellen. Kompetenzen auf mehr Schultern zu verteilen und Expertisen von außen zu holen, ist ein zukunftsorientiertes Modell. Natürlich werden sich einige sträuben. Sie werden Angst haben, dass sie Macht abgeben müssen. Jedoch: Männer wie Hans-Joachim Watzke oder Michael Zorc, die gute Arbeit machen, haben ja auch in einer Phase, in der sie Inputs brauchten, erkannt, dass sie etwas Neues hinzuziehen müssen. Und sie sagten sich: Da bricht uns kein Zacken aus der Krone.
Die Blicke richten sich auf den FC Bayern, wo die Nachfolge von Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge schon länger gärt.
Die beiden werden noch gute vier Jahre in ihren Funktionen bleiben. Das ist okay. Aber in dieser Zeit müssen sie die Nachfolge dann geregelt haben. Oliver Kahn macht 1:1 Sinn. Es gibt nicht viele, die die enormen Ansprüche erfüllen. Er hat Persönlichkeit, sich abseits des Fußballs weitergebildet und steht für den FC Bayern. Ich sehe ihn auch ähnlich wie Sammer, weil auch er eine klare Sicht hat, Meinung vertritt und sie gegen Widerstand hält. Ich mag Persönlichkeiten, bei denen ich den Fernseher lauter stelle, weil ich wissen will, was sie sagen. Bei vielen kannst du den Ton ausmachen. Bei Kahn stelle ich lauter. Bei Max Eberl übrigens auch. Obwohl er ein anderer Typ ist.
Ihn haben die Bayern auch auf dem Zettel.
Zurecht. Wobei ich sicher bin, dass er das, was er in Mönchengladbach aufgebaut hat, weiterführen wird. Die Reise von Max Eberl mit der Borussia ist noch lange nicht zu Ende. Das ist auch gut so für den Verein. Du kannst mal einen Spieler verlieren oder auch zwei. Aber nicht Max Eberl. Er ist der Baumeister von allem dort.
Hasan Salihamidzic wurde zuletzt als Architekt der neuen Bayern in den Vordergrund geschoben. Sie sagten schon öfter, man sollte ihm Zeit geben, sich freizuschwimmen.
Das ist ein längerer Prozess. Ganz ohne Schwimmflügel geht es noch nicht, aber das meine ich gar nicht so böse. Tatsache ist, dass er eine sehr große Verantwortung übertragen bekommen hat bei der Suche nach Neuzugängen. Ratschläge von Hoeneß und Rummenigge werden für ihn immer wertvoll sein. So einen Alphonso Davies zu holen oder einen Callum Hudson-Odoi zu locken – daran wird sich Hasan messen lassen müssen. Wobei ich von einem massiven Zukauf junger Spieler warnen würde.
Warum?
Uli Hoeneß hat das selbst mal gesagt: Der FC Bayern kann kein Ausbildungsverein sein. Wenn du mit jungen Spielern Erfolg haben willst, brauchst du Geduld. Und Geduld und FC Bayern – das sind zwei Begriffe aus verschiedenen Welten. Wegen des Anspruchs, möglichst immer alle Titel zu gewinnen. Wenn es nur mit jungen Spielern funktionieren soll, müsste man Bayerns DNA umprogrammieren, die Philosophie umschreiben. Dann müsste der Verein das offen kommunizieren: Wir bauen etwas Neues auf und nehmen in Kauf, dass uns Titel durchrutschen. Ich finde, dass Jochen Sauer als Leiter des FC Bayern Campus tolle Arbeit leistet. Aber es ist nun mal Fakt, dass man auch ein klares Zeichen an die eigene Jugend sendet, wenn man Leute wie Davies oder Hudson-Odoi holt. Nämlich dass die Tür zu den Profis zu ist.
Salihamidzic soll Fehler machen dürfen, sagten Sie mal – Fehler können bei den heutigen Preisen sehr teuer werden.
Irgendwann ist jedenfalls das Geld auch bei Bayern endlich. Wichtig ist, dass deine Achse steht. Dann ist drumherum ein Fehlschuss verschmerzbar. Die Stützen allerdings, die müssen sitzen. Felsenfest.
Hat sich Thomas Müller wieder voll stabilisiert?
Er steckt mitten in der Phase, in der er sich weiter stabilisieren muss. Bei ihm wurden früh höchste Messlatten angelegt, er hatte ja lange kein Leistungsloch und war zum Beispiel bei jeder WM zur Stelle. Irgendwann kommt da natürlich eine Delle. Er hat seinen Instinkt verloren, seine größte Waffe. Wenn Instinktfußballer nachdenken – uhhh, dann wird es schwierig. Hätte Gerd Müller früher immer zwei Gedanken gehabt, hätte er keine 365 Bundesligatore gemacht. Instinktfußballer denken nicht, wenn es zum Torschuss geht. Man merkte, dass es in ihm arbeitet. Es ist normal, dass man nicht frei im Kopf ist. Mittlerweile hat er sich gefangen. Niko Kovac gibt ihm Vertrauen. Das braucht er.
Sie rieten neulich zu Timo Werner – ist er 80 Millionen Euro wert?
Ja. Ich halte mich normalerweise bei solchen Fragen zurück. Aber ich fände es sinnvoller, wenn Bayern 80 Millionen in Werner statt in Lucas Hernandez investiert. Hinten bekommen sie jetzt Benjamin Pavard – aber vorne fehlt eine Alternative zu Robert Lewandowski. Wenn der ausfällt, hat Bayern ein Megaproblem. Das ist ein zu schmaler Grat für einen Top-Club. Jeder Gegner weiß: Ist Lewandowski aus dem Spiel, hast du Bayern in Schach. Werner kann zudem auch außen spielen. Er kann also reinwachsen, solange Lewandowski da ist. Wobei ich nicht ausschließe, dass er zu Dortmund gehen könnte. Von der Spielanlage passt er da besser hin. Ich würde ihn dennoch gerne bei Bayern sehen. Man würde mit ihm temporeicher und flexibler.
Interview: Andreas Werner
Am Samstag Teil 2
Am Wochenende analysiert Stefan Effenberg das DFB-Team, die Zukunft von Niko Kovac, Franck Ribery sowie Mats Hummels und sagt, welches DFB-Talent in die absolute Weltklasse aufsteigen wird. Zudem skizziert er seine Ziele im Fußball.