München – Am ersten Bundesliga-Sonntag der Saison rannten in der 19. Sekunde sieben Fußballer von RB Leipzig los, hinein in die Feldhälfte des BVB, dem Ball hinterher. In der 22. Sekunde wusste der Dortmunder Verteidiger Manuel Akanji sich dann nicht anders zu helfen, als den Ball hoch in die Luft zu schießen. In der 28. Sekunde köpfte Kevin Kampl ihn wieder zurück, in der 29. Sekunde verlängerte Yussuf Poulsen ihn mit der Hacke und in der 31. Sekunde schoss Jean-Kévin Augustin ihn ins Tor. So stellt man sich in Leipzig fußballerische Perfektion vor.
An diesem Samstag, knapp fünf Monate später, tritt Leipzig, der Tabellenvierte, wieder gegen Dortmund, den Tabellenersten, an. Es drängen sich viele sportliche Fragen auf, es gibt aber eine, die ist interessanter als die anderen, weil sie auch nach den 90 Spielminuten noch aktuell ist, weil sich an ihr die Zukunft der beiden Clubs ablesen lässt, vielleicht sogar die Zukunft der Bundesliga. Im modernen Fußball ist die Frage sehr umstritten, sie lautet: Lohnt es sich, den Ball oft zu haben?
Ja, sagen die Dortmunder.
Nein, sagt Ralf Rangnick, der Fußballchef in Leipzig.
Wer hat recht?
Um sich der Frage anzunähern, muss man zunächst verstehen, was dem Konzern Red Bull, dem Geldgeber in Leipzig und vielen anderen Städten, wichtig ist. Es genügt, dafür in die Olympiaeishalle zu blicken, wo die Eishockeyprofis des EHC Red Bull München dreimal in Folge die Meisterschaft gewonnen haben, weil sie ihre Gegner auf dem Eis früher und aggressiver überfallen als alle anderen. Red Bull verkauft Sport als Spektakel.
Vor sechseinhalb Jahren hat RB Leipzig, damals noch ein Viertligist, daher einen Mann angestellt, der Fußball schon immer radikaler gedacht hat als die allermeisten. Ralf Rangnick, 60, hat die Viererkette und die ballorientierte Raumdeckung, Standards des modernen Fußballs, in Deutschland etabliert. Seinen Spielstil – aggressiv anlaufen, gegenpressen, Ball erobern und nach wenigen Sekunden aufs Tor schießen – durfte er in Leipzig auf die Spitze treiben. Oft passen seine Spieler den Ball recht unpräzise nach vorne und stürmen, wie am ersten Spieltag in Dortmund, einfach hinterher, um den Ball in der tornahen Zone zurückzuerobern. Das ist sein Plan. Ein „Zeit“-Reporter hat einmal geschrieben, dass es in Leipzig Leute gibt, die glauben, dass Rangnick sogar Trainer Pep Guardiola – sollte dieser sich eines Tages freiwillig als Trainer in Leipzig bewerben – ablehnen würde, weil er von so viel Ballbesitz nichts hält.
In Leipzig hat der mächtige Sportdirektor Rangnick das Sagen. Als der Trainer Ralph Hasenhüttl am System zu zweifel begann, musste er im Mai 2018 gehen. Hasenhüttl wollte wohl vom Plan abweichen, der Sportdirektor selbst hätte diesen angeblich gerne radikaler verfolgt – und berief sich wie schon 2015 für ein Jahr zum Trainer. Es sprechen natürlich Argumente für ihn. Als Coach ist er bereits achtmal aufgestiegen. Doch einen Titel hat er erst einmal gewonnen. 2011 holte er mit Schalke den Pokal. Dazu muss man aber wissen: Er wurde damals erst nach dem Halbfinale Trainer, im Finale musste er nur den Zweitligisten Duisburg besiegen. Es bleibt die Frage: Gewinnt man mit Rangnicks Fußball Titel?
Die Zweifel steigen, wenn man in dieser Bundesliga-Saison nach Dortmund blickt, wo der Trainer Lucien Favre den BVB in nur 17 Spielen zum Titel geformt hat. Natürlich haben die Dortmunder Scouts hervorragende Fußballer gefunden, doch Favre ist es, der den Spielstil vorgibt. Er hat mit Thomas Delaney und Axel Witsel zwei Pfeiler in sein Team gerammt, die den Angriff antreiben, dazu aber auch absichern. Seine Elf kann schnell und langsam attackieren. Klar, der BVB hat die talentierteren Spieler, jedoch hat auch Leipzig viel in seinen Kader investiert. In den Hinrunden-Statistiken aber offenbart sich der stilistische Unterschied: in der Ballbesitzquote (BVB: 58 Prozent; RBL: 50 Prozent), in der Passquote (BVB: 86 Prozent; RBL: 76 Prozent), in der Zahl der Fehlpässe pro Partie (BVB: 85,12; RBL: 108,71).
Die Zweifel steigen weiter, wenn man sich erinnert, wen Rangnick für die nächste Saison als Trainer verpflichtet hat: Julian Nagelsmann, 31, der in Hoffenheim auf Ballbesitz setzt. Wie passt das nur zusammen?
Vielleicht sieht Rangnick ein, dass man auf dem höchsten Level – man könnte auch sagen: auf dem Titel-Level – mehr als nur eine Geschwindigkeitsstufe beherrschen sollte. Und vielleicht hat er auch an jenen ersten Bundesliga-Samstag gedacht, als seine Leipziger den BVB nach 31 Sekunden überrumpelten, am Ende aber 1:4 verloren.