Geschenk mit roter Schleife

von Redaktion

Naomi Osaka gewinnt ihren zweiten Grand-Slam-Titel und besteht dabei mehrere Prüfungen

VON DORIS HENKEL

Melbourne – Nach vier Stunden Schlaf war sie wieder auf den Beinen. Naomi Osaka schlüpfte in das bunt gemusterte Sommerkleid, legte ein wenig Make-up auf und fügte ein paar große Ohrringe hinzu. Wenig später stand sie mit dem silbernen Pokal, den sie am Abend zuvor im Finale gegen Petra Kvitova gewonnen hatte, beim Fototermin vor den bunten Strandhäuschen am Brighton Beach. Hundert Kameras klickten, es war ein wirklich hübsches Motiv. Aber dieser inszenierte Auftritt hielt keinem Vergleich mit sehr speziellen Augenblicken nach dem Ende des Spiels stand. Wie sie nach dem letzten Ball langsam in die Knie ging, und dort ein paar kostbare Sekunden auf den Schläger gestützt auf Zehenspitzen still und ganz für sich verharrte – darin steckte so viel mehr von ihr.

Es dürfte für eine Weile einer der letzten ruhigen Momente im Leben von Naomi Osaka gewesen sein. Nach dem Sieg im Finale der Australian Open gegen Petra Kvitova (7:6, 5:7, 6:4) ist die in den USA lebende Japanerin nun die Nummer eins des Frauentennis. Sie landete mit einem Spiel auf dem Gipfel, das in jeder Hinsicht bemerkenswert war. Es sah fast so aus, als hätten sich die Götter des Tennis vorher Gedanken gemacht, wie man am besten herausfinden könnte, was Osaka wirklich zu bieten hat. Hinweise hatte es ja gegeben vor einem halben Jahr beim Sieg im Finale der US Open gegen ihr Idol Serena Williams, als sie unter schwierigsten Umständen die Nerven bewahrt hatte.

Aber es gibt in der Geschichte des Tennis reichlich Beispiele dafür, wie schwer es ist, mit dem steigenden Interesse nach einem ersten großen Sieg zu leben und so weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Wer erinnert sich an Jelena Ostapenko, die vor anderthalb Jahren den Titel in Paris gewann und von der man danach nicht mehr allzu viel hörte?

Osaka hingegen spielte nach dem Sieg in New York mit der gleichen Intensität und den gleichen Ambitionen weiter, bestens betreut von ihrem Münchner Coach Sascha Bajin. Gegen Kvitova bestand sie eine Prüfung, die mindestens genauso schwer war wie jene in New York. Die Art, wie sie bis zu den ersten drei Matchbällen beim Stand von 5:3 im zweiten Satz spielte, war höchst überzeugend. Vom großen Rod Laver, nach dem das Stadion benannt ist, stammt der Satz, die Zeit der größten Gefahr in einem Spiel bestehe bei einer klaren Führung; man dürfe in keinem Moment jemals nachlassen.

Hätte Osaka das Spiel in zwei klaren Sätzen gewonnen, wäre es auch ein großer Sieg gewesen, doch Kvitova schlug ihr die Tür zum Sieg in dieser Phase mit lautem Krachen vor der Nase zu, und erst aus der Tatsache, wie Osaka mit dem Verlust des Satzes und der deutlich sichtbaren Enttäuschung darüber umging, wie sie sich sammelte und mit jedem Schlag wieder stärker wurde, das gab der Geschichte die besondere Dimension.

Wie sie das schaffte? „Ich weiß nicht genau“, sagte sie hinterher, „ich wollte mir auf keinen Fall nach dem Spiel was vorwerfen müssen. Außerdem: Wenn ich gegen eine der besten Spielerinnen der Welt einen Satz verliere und mich darüber wundere, weil ich mich für so viel besser halte als sie – das stünde mir sicher nicht zu.“ Sie fand sich also schnell wieder zurecht, in ihrem Gefühlsleben wie im Spiel, und das Publikum freute sich bis zum Ende über die aufregende Partie zweier Athletinnen mit großen Sympathiewerten. Nach dem fragwürdigen Durcheinander beim New Yorker Finale mit Williams war dieses Endspiel in jeder Hinsicht ein Geschenk mit roter Schleife.

Mit dem fünften Matchball schnappte sich Osaka den zweiten Grand-Slam-Titel ihrer Karriere, und wenn nicht alle Anzeichen täuschen, dann ist das mehr als nur eine Bestätigung. Sie steht nun als erste Asiatin an der Spitze der Weltrangliste, gefolgt von Kvitova, Simona Halep, Sloane Stephens, Karolina Pliskova und Angelique Kerber. Serena Williams, die im Viertelfinale gegen Pliskova verloren hatte, folgt mit einigem Abstand auf Platz elf.

Beim Fototermin am Brighton Beach hielt Osaka den Pokal nicht mehr ganz so ungelenk im Arm wie bei der Siegerehrung, und die Sache mit dem Siegerlächeln klappte auch ein wenig besser. Aber das gehört zu den Nebensächlichkeiten. Die neue Beste des Frauentennis hat stattdessen eine schöne Ankündigung für die nächste Zeit parat. „Ich denke“, sagt sie, „ich werde weiter mit dem Strom schwimmen. Das war immer schon mein Motto.“ Wenn man den Auftrieb und die Wellen zu nutzen weiß, ist das eine vielversprechende Idee.

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