Kitzbühel – Kitzbühel. Josef Ferstl war ein paar Mal versucht, seine Sachen zu packen und den schönsten Ort im Zielraum von Kitzbühel zu verlassen. Bei den Österreichern Matthias Mayer und Vincent Kriechmayr, beim Südtiroler Dominik Paris und schließlich noch einmal bei Johan Clarey aus Frankreich. Sie alle waren ihm nahe gekommen, der letzte sogar sehr nahe, aber keiner konnte ihn vertreiben vom Stuhl des Führenden. Mit einem Kopfschütteln und einer Siegerfaust ließ er sich jedes Mal wieder in den Sitz fallen. Seine Frau Vroni stand ein paar Meter entfernt – und irgendwann kullerten bei ihr Tränen, vor Freude.
Nachdem die ersten 30 Starter im Ziel angekommen waren, fühlte sich der 30-Jährige vom SC Hammer endlich erlöst. „War ich aufgeregt“, erzählte er später, als es offiziell war. Josef Ferstl hat den Super-G von Kitzbühel gewonnen, zum zweiten Mal nach Gröden im Dezember 2017 stand er im Weltcup ganz oben auf dem Siegerpodest. Auf der Streif war ein Erfolg in dieser Disziplin zuvor noch keinem Deutschen gelungen. Ein Jahr nach Thomas Dreßens Coup in der Abfahrt kann der Deutsche Skiverband schon wieder einen Sieger beim wichtigsten Weltcup-Wochenende des Jahres feiern – und als ob dies nicht schon genügend Historie wäre, schloss sich gestern auch noch ein familieninterner Kreis. 1978 und 1979 hatte Vater Sepp Ferstl die Abfahrt auf der Streif gewonnen. Und nun also der Sohn in Kitz im Super-G vorn. Der Junior stellte danach klar: „Ich will eine eigene Gondel, nicht so eine ausgebesserte“ – oder eine geteilte mit dem Papa. Jeder Kitzbühel-Sieger bekommt traditionell eine Gondel der Hahnenkammbahn mit seinem Namen,
Josef Ferstl war mit der Startnummer 1 ins Rennen gegangen, eigentlich kein Vorteil in einem Super-G, bei dem es keine Trainingsfahrt gibt, sondern nur eine Besichtigung. Er habe sich auf sein Gefühl verlassen müssen, sagte er. „Ich habe mir gedacht, ich fahr’ es aus dem Bauch heraus“. Als er im Ziel war, wusste Ferstl nicht so richtig etwas anzufangen mit seiner Leistung. Aber je länger er führte, desto klarer wurde: Ihm war eine grandiose Fahrt gelungen. „Anscheinend kann man mit der 1 auch gewinnen. Man kann nur leider null jubeln“, sagte er.
Der Papa saß derweil auf der Tribüne – und wurde auch immer unruhiger. Später standen beide vor der Kamera des österreichischen Fernsehens. „Träume ich, das ist echt ein Wahnsinn“, sagte Ferstl, der Ältere, und war fast so emotional bewegt wie sein Sohn. Nach dem Rennen haben die Organisatoren den 64-Jährigen kurzerhand für die Siegerehrung verpflichtet, um dem Junior die goldene Gams, die Trophäe zu überreichen. „Das ist mir schon sehr nahe gegangen“, sagte der Super-G-Gewinner 2019 über den ganz besonderen Moment am Ende eines ganz besonderen Rennens.
Von Kindesbeinen an hat Josef Ferstl eine spezielle Verbindung zu Kitzbühel. Fast jedes Jahr durfte er den Papa zum Hahnenkammrennen begleiten. Als er sechs war, nahm der ihn zum ersten Mal mit hinauf zum Starthaus beim Training. „Dann hat er mich gezwungen runterzufahren“; besser gesagt „abzurutschen“, gibt Josef Ferstl zu. „Das war nicht so lustig.“ Er hat dies aber ebenso geschafft wie später den harten Weg in den Weltcup. Mit 12 Jahren ist er weg von zu Hause aufs Internat, „um meinen Traum zu leben“ – und nun ist er in Erfüllung gegangen.
Für Sportdirektor Wolfgang Maier, der während der Fahrt Ferstls in Garmisch-Partenkirchen bei der Frauen- Abfahrt am Pistenrand stand und das historische Ereignis nur im Liveticker miterlebte, ist der Sieg, „ein brutaler Befreiungsschlag nach allem, was uns an den Fingern klebt in dieser Saison“. Die Verletzungen von Thomas Dreßen und Andreas Sander, die Schwierigkeiten von Felix Neureuther in seinem Comeback-Winter sowie die Sauerstoff-Affäre um Stefan Luitz – das habe Spuren hinterlassen, gibt Maier zu. Nun fährt das deutsche Speedteam auch ohne Dreßen mit einem Medaillenkandidaten zur WM nach Are. Ferstl kann mit dem Druck leben, zumal für ihn nun fast nichts mehr Besseres kommen kann. „Ich muss das hier in Kitzbühel fast über eine Medaille bei der WM stellen.“