Mehr als eine Prise Pragmatismus

von Redaktion

DFB-Frauen können vorerst mit dem Minimalisten-Modus bei der WM leben

VON FRANK HELLMANN

Valenciennes – Von Montpellier ist nur das Beste zu hören: Eine lebhafte Universitätsstadt am Mittelmeer, nicht weit von den Badeorten Palavas-les-Flots und La Grande-Motte entfernt. Junges Publikum, das sich gerne vom mediterranen Klima verwöhnen lasst. Vielleicht braucht die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bei dieser WM jetzt eine solche Luftveränderung. Raus aus dem verregneten Norden, rein in den sonnigen Süden.

Gestern ging es für den DFB-Tross im Charter von Lille nach Montpellier. Vielleicht kommt dort am Montag im dritten WM-Spiel gegen Südafrika mal mehr als nur ein Arbeitssieg zustande. Auch beim zweiten 1:0, diesmal gegen Spanien, übertünchte das Resultat die spielerischen Mängel. „Bei mir überwiegt der Stolz: Die Mannschaft musste an ihre Grenzen gehen und ist an ihre Grenzen gegangen“, betonte Martina Voss-Tecklenburg, deren im Stade du Hainaut von Valenciennes patschnass geregneten Haare fast ein bisschen an Joachim Löw erinnerten, als der im brasilianischen Recife bei der WM 2014 mal komplett durchgeregnet gegen die USA (1:0) einen ähnlichen Charaktertest coachte.

Was der Bundestrainer kann, kann die Bundestrainerin schon lange. Dann dürfen auch die Frauen jenes Stilmittel verwenden, das die Männer bei Weltmeisterschaften oft genug zum deutschen Markenkern erhoben. „Wenn wir jedes Spiel 1:0 gewinnen, werden wir Weltmeister. Das würde ich sofort unterschreiben“, sagte Melanie Leupolz. Sie wusste natürlich, dass diese Rechnung kaum aufgehen wird, weshalb sie noch anfügte: „Natürlich haben wir einen höheren Anspruch.“

Ihre Trainerin ist fast gezwungen, das Glas als halb voll statt halb leer anzusehen. „Wir haben schon mal einen sehr komplizierten Einstieg in die WM gelöst. Die sechs Punkte nimmt uns keiner mehr weg.“ Ihre These: Ohne den Druck, der trotz der kürzlich eingetroffenen Teampsychologin Birgit Prinz die Köpfe nicht nur ein bisschen belastet hat, spielt es sich gegen Südafrika vielleicht befreiter auf. „Wir brauchen gar nicht so nervös zu sein. Es ist jetzt zweimal gut gegangen – nun muss der nächste Schritt kommen“, sagt die Trainerin.

Voss-Tecklenburg setzt darauf, dass die Erfahrungsprozesse schnell genug gehen. Wie bei ihrem Dreierblock mit der viel Ruhe ausstrahlenden Torhüterin Schult und den beiden Innenverteidigerinnen Sara Doorsoun und Marina Hegering.

Dass der Findungsprozess ansonsten von zahlreichen Umstellungen – auch erzwungen durch den Ausfall von Dzsenifer Marozsan mit dem Wechsel auf ein 4-4-2-System – erschwert wird, ist offensichtlich. Aber die Chefin will es so, dass mitten im Spiel die 17-jährige Lena Sophie Oberdorf anstandslos von der Seite in die Mitte, die 18-jährige Giulia Gwinn übergangslos von rechts nach links oder Popp klaglos von ihrer Lieblingsposition im Sturm ins Mittelfeld rückt.

„Das Schöne ist, dass die Spielerinnen versuchen, ihre Aufgaben in großartiger Weise zu erfüllen“, sagt Voss-Tecklenburg. Die Idealformation findet sich später. Irgendwie. Irgendwann. Daher wäre es ja so wichtig, dass ein noch etwas unrund laufendes Ensemble nicht schon im Achtelfinale auf den Rekordweltmeister USA trifft. Als Gruppenerster wäre ein Gruppendritter als Gegner garantiert. Und danach könnte sich jener Lauf entwickeln, der erst einmal zur Qualifikation für die Olympischen Spiele 2020 führen soll.

Voss-Tecklenburg kennt aus ihrer Zeit als Schweizer Nationaltrainerin die Mechanismen eines langen Turniers; die Frauen-WM 2015 in Kanada bildet eine unverzichtbare Erfahrung. Von den späteren Finalisten, USA und Japan, drückte damals niemand in der Vorrunde das Gaspedal durch. Durchhaltevermögen ist also in Frankreich genauso gefordert wie Pragmatismus. Und die DFB-Frauen haben mehr als eine Prise davon bereits offenbart. Vielleicht kommt in Montpellier auch noch das schöne Spiel zum Vorschein.

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