Der griechische Nowitzki

von Redaktion

NBA-MVP Antetokounmpo will nun WM-Gold

VON ANDREAS MAYR

Milwaukee – Am 23. November jährt sich die bemerkenswerteste Tat des Giannis Antetokounmpo (24) zum sechsten Mal. Er flog an diesem Tag nicht über einen Zwei-Meter-Riesen. Er schaffte es auch nicht mit vier Schritten von der Mittellinie bis zum Korb wie an manch anderen Tagen. Giannis Antetokounmpo, der damals 19-jährige Basketballer der Milwaukee Bucks, sprintete zu Fuß, bei etwa minus zehn Grad, von seinem Appartement zum Stadion der Bucks. Sein gesamtes Gehalt hatte er der Familie in Athen überwiesen. Ihm blieben nicht einmal ein paar Dollar für eine Taxifahrt.

Dirk Nowitzki hat einmal über eine ähnliche Geschichte geplaudert. In seinem ersten Jahr in Dallas hortete er die Gehaltsschecks mit der Fanpost. Beides ging an die Mama. Die kümmerte sich um Fanpost – und das Geld.

Geschichten wie diese hört man aus der NBA, der Liga der Millionäre, selten. Aber es ist keine Besonderheit, dass man sie über Nowitzki und Antetokounmpo erzählt. In der Welt der Selbstdarsteller und Aufsprecher gehören sie zu den Normalen. Ian Thompson, der bekannte US-Autor, kommt in seinem Buch, das er „Die Seele des Basketballs“ nennt, zu einem Schluss: Dieser Charakter muss anerzogen sein. Keiner von beiden träumte in seiner Jugend von der NBA und dem großen Geld. Es ging um Freunde, Freizeit und im Fall des Griechen ums Überleben. Ihre Karrieren sind mehr ein Unfall des Schicksals – und auf eine seltsame magische Art miteinander verwoben. Wenn in zehn Tagen die Weltmeisterschaft in China beginnt, blickt die Basketball-Welt auf den großen Griechen, wie sie früher immer auf Nowitzki geschaut hat. Der Alleskönner aus Athen reist als größte Attraktion der Festspiele an, als einer der wenigen Europäer, die selbst in den Staaten verehrt werden. In Griechenland, ohnehin eine Basketball-affine Nation, ist der Hype ausgebrochen. Die Außenseiter träumen allen Ernstes von einer Medaille. Der Star selbst möchte Gold. Er würde den Titel für die Heimat sogar gegen die MVP-Trophäe eintauschen, gegen die Insigne, die dem besten Basketballer der NBA-Saison zusteht. Er hat das in einem großen Interview vor einem Monat verraten.

Seine Worte erhielten auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil der 2,11-Mann ansonsten nicht so viel sagt. Trubel scheut er. Sein Team aus Milwaukee führt er mit Taten nicht mit Worten. Autor Thompson nennt das die „selbstloseste Art Menschen anzuleiten“. Er hat diese Hymne eigentlich auf Nowitzki geschrieben. Aber sie passt gut zu Antetokounmpo. Dem griechischen Nowitzki. So hat ihn zwar noch niemand genannt, weil sich sein Aussehen (muskulös, athletisch) und seine Fähigkeiten (Tempo, Kraft, Dunks) doch stark vom Deutschen unterscheiden. Doch es finden sich erstaunlich viele Parallelen. Beide kamen als unbekannte Jugendliche mit großem Potenzial (auch zum Scheitern) nach Amerika. Beide quälte das Heimweh. Beide versetzten ihre Städte in einen Liebesrausch. Nowitzki die Texaner in Dallas, Antetokounmpo die von deutschen Wurzeln geprägte Metropole Milwaukee im mittleren Osten der USA. Ticketpreise schießen nach oben, Restaurants entstehen, Mitarbeiter werden angeworben – „der Giannis-Effekt“ habe Milwaukee gepackt, sagt Agent Alex Saratsis, der auch Antetokounmpos Brüder Kostas (27/ebenfalls im WM-Kader), Thanasis (21) sowie bald auch Alexis (17) vertritt.

Und: Nowitzki wie Antetokounmpo eint die Verbundenheit zu Heimat und Familie. Drei Jahre vor seiner Geburt immigrierte die nigerianische Familie illegal nach Athen. 18 Jahre lebte der „Greek Freak“ ohne Pass dort. Er verkaufte Andenken, Uhren, Taschen für ein paar Euros Taschengeld, wurde rassistisch beleidigt und schlief an manchen Tagen auf einer Matte in der Sporthalle – wie später auch in Milwaukee. „Er hatte keinen Grund, alleine in der Wohnung zu sitzen“, sagt sein Agent in einer Doku des Fernsehsenders TNT. Als die US-Behörden den Visumsantrag der Eltern ein zweites Mal ablehnten, sagte er gar: „Noch einmal und ich gehe wieder heim.“ Er blieb, weil die Familie kam. Nun ist er die größte Urgewalt der Basketball-Welt, den obendrein eine verborgene Kraft antreibt. Sein Vater Charles starb vor zwei Jahren überraschend an einem Herzinfarkt. Antetokounmpo, den alle nur „Giannis“ rufen, sagt: „An jedem Tag, an dem ich auf dem Spielfeld stehe, denke ich an ihn.“

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