München – Wenn Julian Nagelsmann lachen will, läuft bei ihm „Jerks“ im Fernsehen. Jene Serie, in der die TV-Stars Christian Ulmen und Fahri Yardim politisch völlig inkorrekte Kalauer über Behinderte, Homosexuelle oder Ausländer am Fließband produzieren. „Manchmal schaue ich die Show zusammen mit meiner Schwiegermutter. Wird es derbe, schaue ich kurz zu ihr rüber und hoffe, dass sie lachen muss. Dann muss ich mich auch nicht mehr zurückhalten“, beschreibt Nagelsmann seine Jerks-Abende.
Zurückhaltung – diesen Ausdruck würde der RB Leipzig-Trainer wohl grundsätzlich am liebsten aus seinem Wortschatz streichen. Er passt so gar nicht zum Charakter des jüngsten Bundesliga-Trainers aller Zeiten. Das hat jedoch nicht nur Vorteile. Nach seiner größten Schwäche gefragt, muss der Hobby-Mountainbiker nicht lange überlegen: „Ich bin wahnsinnig impulsiv. Vieles bringt mich von dem einen auf den anderen Moment auf 180. Da fliegt schon mal eine Wasserflasche durch die Küche. Fünf Minuten später ist wieder alles gut. Wer mich aber nicht kennt, zuckt erst mal zusammen.“
Sein Temperament stellt allerdings auch Menschen, die ihn kennen, vor Herausforderungen. Nicht nur privat, auch im Fußball. Aus Hoffenheim erfährt unsere Zeitung, dass Nagelsmann mehrfach den Draht zu seiner Mannschaft verloren hatte und der Streit nicht nur in der Kabine ausgetragen wurde. TSG-Spieler sollen sich beim Vorstand über den zwischenmenschlichen Umgang des Cheftrainers heftig beklagt haben.
Zudem fällt immer wieder der Begriff „arrogant“, wenn der Name Nagelsmann ins Spiel kommt. Zu den Stärken des Familienvaters gehört allerdings, dass er sich dieser Problematik bewusst ist. Ihm sei diese Wirkung seiner Person durchaus bewusst, Probleme habe er damit aber nur, sobald diese Meinung auch vorherrsche, wenn man ihn persönlich und länger kennt.
Ein Vorurteil, das mit Sicherheit im rasanten und extrem frühen Aufstieg des gebürtigen Landsbergers seinen Ursprung hat. Als junger Erwachsener musste Nagelsmann schmerzhaft lernen, dass das Schicksal die Jugend nicht verschont.
Sein Vater wählt den Freitod, da ist er gerade einmal 20 Jahre jung. Nagelsmann zieht von München zurück in die Heimat und kümmert sich um seine Mutter, da die beiden älteren Geschwister schon ihre eigenen Familien haben. Nur kurze Zeit später muss der Abwehrspieler seine Spielerkarriere nach zahlreichen Verletzungen aufgeben. Er hadert jedoch nicht, sondern stürzt sich ins Trainergeschäft.
Mit 28 Jahren übernimmt er 2016 die TSG Hoffenheim. In demselben Jahr erhält der Durchstarter den „Trainerpreis des deutschen Fußballs“ und 2017 die Auszeichnung „Trainer des Jahres“.
Seit dieser Saison soll er dem Projekt Rasenball Leipzig Flügel verleihen. Mit einem verheißungsvollen Beginn: Morgen empfangen die Dosenexperten den Rekordmeister aus München als Tabellenführer. Seine Spieler geben sich vor dem Gipfel selbstbewusst: „Es ist an der Zeit, sie mal wieder zu schlagen“, diktierte Abwehrchef Willi Orban dem „Kicker“. Es sind die üblichen Floskeln, die vor solchen großen Spielen als Kampfansagen interpretiert werden.
Nur: Bei Leipzig ist es meist bei leeren Worthülsen geblieben. Gegen den FC Bayern konnten die Sachsen ihr fußballerisches Potenzial bis dato lediglich andeuten. In sechs Begegnungen gingen die Sachsen nur einmal als Sieger vom Platz. In den letzten drei Duellen konnte RB nicht einmal ein Tor erzielen. Höflich und brav absolvierten die Bullen die letzten Treffen mit den Bayern-Stars – wie zuletzt beim 0:3 im DFB-Pokalfinale.
Ein solch harmloser Auftritt ist unter dem Charakter-Trainer Julian Nagelsmann kaum vorstellbar. Er kennt nur eine Maxime: Ganz oder gar nicht. Damit ist er oft angeeckt. Aber das dürfte ihm egal sein.
Wenn er in seinen 32 Jahren eines bisher gelernt hat: Das Leben wartet nicht. Genauso wenig wie der Erfolg.