München – Günter Netzer wird am Samstag 75. Das mag man nicht glauben. Weil Männer mit 75 schleppend gehen, Dreiviertelhosen tragen und Trekkingsandalen, weil die so bequem sind. Günter Netzer kann also nicht 75 werden, weil er immer ein Jackett und Lackschuhe anhat, als wäre er zu einem Geschäftstermin unterwegs. Er hat auch keinen Mittsiebziger-Haarkranz, sondern immer noch seine Spielerfrisur. Sie umrahmt sein Gesicht. Man verlacht solch eine Frisur ja mittlerweile als retro – aber das ist der Neid: Auf einen, der ohne Haarausfall durchs Leben kommt.
Günter Netzer wird 75, das ist ein Anlass, dem man großen Raum geben muss. Gar nicht so sehr wegen dem, was er als Spieler geleistet hat. Das war, nüchtern betrachtet, überschaubar, seine Karriere verdichtete sich auf wenige Jahre. 37 Länderspiele und sechs Tore in der Nationalmannschaft sind nachgerade lächerlich im Vergleich zu Bilanzen der anderen, und mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1974 hatte Günter Netzer nur geringfügig mehr zu tun als Kevin Großkreutz mit dem WM-Sieg 40 Jahre später.
Günter Netzer muss man aber anders bewerten als einen normalen Fußballer: nämlich als Gesamtkunstwerk.
Phase eins: der Spieler. Er schuf etwas Neues. So wie Franz Beckenbauer den Libero erfand und prägte, stand Günter Netzer dafür, die „10“ zu sein. Der Regisseur, wie in einer Filmproduktion. Er ließ sich die Bälle bringen und verteilte sie. Glanzzeit waren die frühen 70er-Jahre, Höhepunkt des Schaffens die EM-Saison 1971/72. Mit der Achse Beckenbauer – Netzer – Müller wurde die Nationalmannschaft Europameister. Ältere Semester bestehen darauf, dass es zuvor und danach keine bessere deutsche Elf gegeben habe als jene beim Finalturnier in Brüssel mit vier Nationen.
1973 wechselte Netzer von Borussia Mönchengladbach zu Real Madrid, er verabschiedete sich mit dem Pokalsieg. Was Netzer dabei tat, gehört zum deutschen Bildungskanon. Er wechselte sich zur Verlängerung ein (Trainer Hennes Weisweiler hatte den Abtrünnigen in einer autoritären Aufwallung auf die Bank gesetzt), ließ einen Wutschuss los, der ihm verrutschte und dadurch sensationell unhaltbar wurde.
Danach ging es sportlich mit Netzer bergab, er hatte Verletzungen, wurde langsam, als Spieler im Ausland war es ohnehin schwer, von Bundestrainer Helmut Schön berücksichtigt zu werden. Der streberhafte Wolfgang Overath, als Positionsrivale von Netzer gesehen, zog an ihm vorbei. 1975 trat Netzer beim DFB zurück. Er war dann ja auch schon über 30.
Phase zwei: der Manager. Man sollte mal wieder darauf hinweisen, dass es nicht Uli Hoeneß war, der als erster Spieler den Übergang in die Befehlsebene seines Vereins vollzog. Hoeneß fing bei den Bayern 1979 mit dem Bürojob an, Netzer beim Hamburger SV ein Jahr früher. Es kam sogar zu einem Schnittpunkt des Managers Netzer und des Spielers Hoeneß. Günter Netzer wollte den guten Bekannten aus gemeinsamen Nationalmannschafszeiten für den HSV verpflichten, verlangte aber aufgrund Hoeneß’ Verletzungshistorie Einblick ins Knie. Hoeneß schäumte im ZDF-Sportstudio wegen „dem Herrn Netzer“. Er ging dann für ein halbes Jahr zum 1. FC Nürnberg.
Netzer machte den Hamburger SV zum Hauptrivalen des FC Bayern. In seine achtjährige Amtszeit fielen drei Deutsche Meisterschaften und der Europapokalgewinn 1983, der HSV war der modernste Verein in Deutschland. Netzer baute ein Team um Spieler wie Manfred Kaltz, Horst Hrubesch, Felix Magath, Uli Stein. Als Trainer holte er den genialen Grantler Ernst Happel.
Phase drei: der Fernsehmann. Netzer war immer schon medienaffin. Als Spieler in Mönchengladbach gab er das Vereinsheft „Fohlenecho“ heraus, und die Beziehung zum Hamburger SV kam zustande, weil er das Stadionmagazin verlegen wollte. Mitte der 80er, als Netzer als HSV-Manager aufgehört hatte, entstand ein neuer Fernsehmarkt. Die Bundesliga lief nun auch abseits von ARD-Sportschau und ZDF-Sportstudio, RTL kam am Samstagabend, beginnend 1988, mit der Fußballshow „Anpfiff!“, die drei Stunden dauerte und trotz des amüsanten Moderators Uli Potofski quälend langweilig war. Was an dem Experten im Studio lag: Günter Netzer war eine Fehlbesetzung, die Nation erheiterte sich.
Ein guter und beliebter Experte wurde er erst bei der ARD an der Seite von Gerhard Delling. Da wurde dann abgeräumt bis hin zum Grimme-Preis. Das Duo überzeugte mit Ironie und dem Verharren in einer Art Waldorf-und-Stadler-Distanz: Es gab von keiner Seite den Versuch, die Sie-Front aufzubrechen.
Trotz der humoristischen Form der Darbietung wurde Netzer als Fachmann ernst genommen. Journalisten zitierten ihn als „Fußball-Weisen“. Netzer kritisierte gerne. Es traf Michael Ballack oder Rudi Völler, der sich 2003 nach einem 0:0 in Island über Delling/Netzer ärgerte, die schlechte Samstagabend-Unterhaltung reklamiert hatten. Berühmter, wirrer Völler-Satz in höchster Erregung: „Der Günter, da konntest du früher ja nicht hingegangen.“ Später konkretisierte er: „Standfußballer.“
Seine Expertensachen machte Netzer nebenher. Längst hatte er seinen Wohnsitz nach Zürich verlegt, beteiligte sich am Handel mit Fernsehrechten, stieg bei Cesar W. Lüthi, einem der Strippenzieher im internationalen Sportbusiness, ein; diese Firma ging auf in der Infront AG ein. Er hat(te) mit Eishockey zu tun, mit Fußball. Netzer weiß viel, auch er wurde befragt im Zusammenhang mit der ominösen 6,7-Millionen-Euro-Verschiebung rund um die Fußball-WM 2006. Günter Netzer dürfte einer der reichsten Menschen im Fußball sein. Er ist auch noch immer aktiv, denn er kann unmöglich 75 sein.
Warum uns Netzer ewig jung erscheint: Weil er sich die Alterslosigkeit der Pop- und Rockstars angeeignet hat. Denn sein Aufstieg fiel in eine Zeit, in der die Jugend aufbegehrte und sich andere Idole als die vom Elternhaus vorgegebenen suchte. Man fand sie in den Beatles, den Stones, The Who – und im Fußball verbreitete eben Günter Netzer die Anmutung, Grenzen zu überschreiten. Er fuhr Sportwagen (legendär sein Jaguar, den er an Franz Beckenbauer – dessen Urteil: „Unfahrbar“ – verkaufte und dieser weiter an Wolfgang Overath), er betrieb in Mönchengladbach eine Discothek („Lovers’ Lane“) – oder wie die Erwachsenen damals voller Misstrauen und Abscheu sagten: einen Beatschuppen.
Man hat den Beat oder Rock ’n’ Roll schließlich auch in seiner Spielweise zu erkennen geglaubt, vor allem die Intellektuellen berauschten sich an ihr und sahen Netzer „aus der Tiefe des Raumes“ kommen. Er schuf eine neue Dimension auf dem Spielfeld.
Günter Netzer war ein Sehnsuchtsspieler des deutschen Fußballs. Und ist es bis heute geblieben. Bei „11Freunde“ hatte er mehr Titelbilder als jeder andere, und Netzer-Hefte verkauften sich, so Chefredakteur Philipp Köster, immer besonders gut. Jede Ausgabe endet auch mit der legendären Kolumne (aus Kösters Feder), in der „Günter Hetzer“ mit „Delle“ und „Waldi, dem bayerischen Urviech“ durch den Fußball streift.
Günter Netzer wird 75 und als Figur unsterblich sein.