München – Alexander Zverev bleibt sich auch zum Ende der Saison treu. Wenn der beste deutsche Tennisspieler Hoffnungen auf konstante Top-Leistungen weckt, kracht er im nächsten Moment auf den Boden der Ernüchterung.
Jüngstes Beispiel: der Auftritt in seinem zweiten Spiel bei der ATP-WM gegen Stefanos Tsitsipas. Nach seinem glatten Zweisatzerfolg gegen die Nummer 1 der Welt Rafael Nadal zwei Tage zuvor, hätte er gegen den Griechen bereits den Halbfinaleinzug perfekt machen können. Was folgte, war eine klägliche 3:6, 2:6-Niederlage. Keine Frage – gegen Tsitsipas, der in London bisher groß aufspielt und schon als Geheimfavorit gehandelt wird, kann man verlieren. Wie sang und klanglos der Deutsche allerdings in der O2-Arena vor 20 000 Zuschauern unterging, lässt seinen Triumph gegen einen angeschlagenen Nadal in einem anderen Licht erscheinen.
Mal wieder schüttelt der Tennis-Fan mit dem Kopf und weiß nicht, wie stark ist Zverev wirklich: Ist er in der Lage um die größten Titel mitzuspielen oder lediglich ein solider Top-Ten-Spieler, der bei den Siegerehrungen schon im Flieger zum nächsten Turnier sitzt?
Konstant ist Zverev in diesem Jahr nur abseits des Platzes. Negative Schlagzeilen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Saison des Weltmeisters aus dem Vorjahr. So auch nach dem Duell gegen den griechischen Sonnyboy: In den sozialen Medien kamen Schummelvorwürfe gegen Zverev auf, weil der 22-Jährige womöglich bei einem Seitenwechsel sein Handy benutzt hat. Auf den Fernsehbildern ist Folgendes zu erkennen: Mitte des zweiten Satzes greift Zverev während einer Pause in seine Tasche und macht verdächtige Wischbewegungen mit seinem Daumen. Tippt der 22-Jährige in dieser Szene tatsächlich auf seinem Smartphone herum? Was nach ATP-Regeln streng verboten ist und als Coaching gewertet und bestraft wird. Als die Kamera näher an seine Tasche zoomt, verdeckt das Spielergebnis allerdings die Sicht.
Im Anschluss beteuert Zverev, sein Mobiltelefon habe die ganze Zeit unangetastet in der Umkleidekabine gelegen. Gegen diese Zverev-Version sprechen die Erfahrungen aus der Vergangenheit. Schon mehrfach hielten Kameras fest, wie der 22-Jährige auf dem Platz sein Handy zückte. Zuletzt gesehen beim Masters-Turnier in Shanghai Anfang Oktober. In London muss es aber wohl heißen: Im Zweifel für den Angeklagten – freigesprochen aus Mangel an Beweisen.
Doch die Szene steht für eine Reihe an Nebenkriegsschauplätzen, die sich über das Jahr verteilen: Im Juli feuert Zverev verbale Giftpfeile in Richtung seines damaligen Trainers Ivan Lendl, sodass dem Supercoach keine andere Möglichkeit bleibt, als sich von seinem Schützling zu trennen. Seitdem trainiert ihn wieder Vater Alexander senior. Zuvor birgt das angespannte Verhältnis zwischen Vater Zverev und Lendl eine Menge Zündstoff.
Alexander senior hat große Schwierigkeiten, die sportliche Führung in die Hände von Lendl zu übertragen. Vor Wimbledon eskaliert die Situation. Reisen werden nur noch so geplant, dass sich beide komplett aus dem Weg gehen können.
Fast gleichzeitig entbrennt ein hässlicher Scheidungskrieg mit Manager Patricio Apey, weil Zverev den Vertrag mit dem Chilenen unbedingt auflösen will, um sich Roger Federers Agentur Team8 anzuschließen. Erst im Spätsommer einigt sich Zverev mit Apey.
Auch in Sachen Liebe zeigt sich Zverev in diesem Jahr unschlüssig. Im Frühling verkündet er die Trennung von Freundin Olga Sharypova. Wenige Wochen später taucht das Paar allerdings wieder Händchen haltend auf der Players Party in Hamburg auf. Inzwischen scheint der Beziehungsstatus geklärt. Beim Turnier in Shanghai sitzt die 22-Jährige wieder in der Zverev-Box.
Das letzte Gruppenspiel des Deutschen heute gegen den russischen Senkrechtstarter Daniil Medwedew, der ebenfalls noch Chancen auf das WM-Halbfinale hat, avanciert so zum Gradmesser. Was für ein Alexander Zverev reiste nach London: ein Titelaspirant oder nur schmückendes Beiwerk für die Großen der Zunft?