Engelberg – Links von Karl Geiger läuteten 30 Kuhglocken, rechts ließen Schweizer Treichler ihre Peitschen knallen, und mittendrin stand die deutsche Skisprung-Hoffnung auf dem Podest und grinste. „Das ist echt genial“, sagte Geiger und genoss die Siegerehrung vor 7000 Zuschauern. Wohl wissend, dass nun zwei stressige Wochen auf ihn warten. „Ich lehne die Rolle nicht ab, bei der Vierschanzentournee zum Favoritenkreis zu gehören“, sagte der 26-Jährige selbstbewusst.
Daran käme Geiger nach Platz drei am Samstag und Rang vier am Sonntag – nicht einmal einen Meter hinter dem Podest – bei der Generalprobe für den Saisonhöhepunkt ohnehin nicht vorbei. Angesichts seiner Podestflüge in Engelberg geht der Vizeweltmeister endgültig als Mitfavorit in die Tournee, die schon am Samstag in seiner Heimat Oberstdorf beginnt. Die deutsche Nummer eins ist Geiger schon länger – vor allem, weil sein Zimmerkollege Markus Eisenbichler auch in der Schweiz nicht seine Topform fand. Der dreifache Weltmeister aus Siegsdorf musste sich mit den Rängen 23. und 41. bescheiden. Völlig außer Form präsentierte sich Richard Freitag (41./61.). Dagegen hielten sich Stephan Leyhe (11./10.) und Pius Paschke (10./13.) sehr passabel.
Geiger nimmt seine neue Rolle betont gelassen. Als er seinen Pokal aus den Händen eines goldenen Engels erhielt und im Hintergrund die Hymne „Conquest of Paradise“ ertönte, durfte er sich schon ein wenig wie im siebten Himmel fühlen. „Das Schöne ist, dass es noch nicht das Ende der Fahnenstange ist. Es geht noch besser“, sagte Geiger, er in allen sieben Einzelspringen der Saison bester Deutscher und nie schlechter als Rang sieben war. Sein Fazit: „Ich nehme ein sehr gutes Gefühl mit. So konstant und so gut war ich noch nie. Es macht mir unheimlich viel Freude gerade. Ich kann ganz beruhigt in die Tournee gehen.“
Das sah auch Stefan Horngacher so. „Das war ein tolle Leistung von Karl. Er springt momentan sehr stabil. Und es war noch nicht perfekt, es geht noch mehr“, sagte der neue Bundestrainer. Sogar der ganze große Wurf scheint möglich – seit Sven Hannawalds legendärem Grand Slam 2001/02 hat kein DSV-Adler mehr die Tournee gewonnen. Allerdings dürften da die ebenfalls starken Kamil Stoch (Polen), Sieger am Samstag, der gestern gestürzte Stefan Kraft (Österreich) und Ryoyu Kobayashi (Japan), Sieger am Sonntag, noch ein Wörtchen mitreden.
Dank seiner Konstanz ist für Geiger jedenfalls alles möglich, längst hat er ein Abo auf Top-Plätze. Gleichzeitig wird er aber auch gewarnt sein: Im Vorjahr gewann er sogar in Engelberg, bei der Tournee konnte er die Erwartungen dann nicht erfüllen. „Letztes Jahr war eine komplett neue Situation für mich. Das hatte ich so noch nie, dass ich ein Siegspringer war. Das war schon eine Umstellung“, sagte Geiger heute.
Nun darf er mit mehr Erfahrung und „breiter Brust“ zur Tournee fahren, wie er selbst sagt. Und ganz nebenbei mit einer weiteren, eher kuriosen Leistung, die er seit dem Wochenende erreicht hat. „Der dritte Platz war der letzte, der mir noch innerhalb der Top 30 gefehlt hat. Jetzt habe ich jede Platzierung durch“, sagte Geiger, grinste und freute sich auf die kurze Weihnachtspause. Kein Zweifel: Die Tournee kann kommen. sid