München – André Wiersig steckt seit fünf Stunden auf offenem Meer in einer Strömung fest. Das eiskalte Wasser peitscht ihm ins Gesicht. Die Fingerkuppen sind taub – Resultat der Begegnung mit einem Schwarm Portugiesischer Galeeren, deren Stiche tödlich sein können. Doch Aufgeben kommt an jenem Tag im Oktober 2015 für den Extremschwimmer nicht in Frage.
Er ist auf einer Mission. Wiersig durchschwimmt den Kaiwi-Kanal auf Hawaii, der 44 Kilometer lang ist und eine Etappe der Oceans´s Seven bildet. Dabei müssen sieben Meerengen auf fünf verschiedenen Kontinenten durchschwommen werden – insgesamt über 200 Kilometer. Es ist die Entsprechung zur alpinen Herausforderung der „Seven Summits“, der Besteigung des jeweils höchsten Berges jeden Erdteils. Wiersig erreicht nach 18 Stunden und 46 Minuten schließlich die Insel O´ahu auf Hawaii, die zweite Etappe ist absolviert.
Doch was reizt einen IT-Vertriebsleiter und Vater dreier Kinder aus Paderborn, bei dem zunächst alles nach normalem Familienleben schreit, an einem solchen Abenteuer? Die Inspiration für die Ocean´s Seven bekam Wiersig – natürlich – am Wasser.
Rückblende: Der heute 47-Jährige verbringt den Sommerurlaub meistens mit seiner Familie auf Ibiza. Es ist zu einem Ritual geworden, dass er zu einer Boje schwimmt, die geschützt in einer Bucht liegt. 2011 ist Wiersig mit einem Freund dann erstmals im Februar auf Ibiza. Trotz der kalten Wassertemperaturen will der Paderborner zu „seiner“ Boje schwimmen – und scheitert schon nach wenigen Minuten kläglich. „Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen“, erzählt Wiersig im Gespräch mit unserer Zeitung. Er duscht anschließend nur noch kalt. Zudem stellt er sich zur Abhärtung eine Regentonne in den Garten, in die er täglich steigt.
Ein Jahr nach dem gescheiterten Versuch ist Wiersig erneut in den Wintermonaten auf Ibiza – und erreicht die Boje dieses Mal. Doch der leidenschaftliche Schwimmer kann nicht genug vom Wasser bekommen. Als kleiner Junge las er fasziniert die Geschichten des legendären Captains Matthew Webb. Seinerzeit der erste Mensch, der den Ärmelkanal ohne Hilfsmittel durchschwamm. Wiersig will seine eigene Geschichte schreiben, der erste Deutsche werden, der die Ocean´s Seven bezwingt. Da er Familienvater und beruflich eingespannt ist, wird schon das Training zur logistischen Meisterleistung: Die Einheiten finden oft nachts oder abends statt. Während die Familie Tatort schaut, steigt Wiersig in die Regentonne.
Am 2. September 2014 bildet schließlich der Ärmelkanal den Auftakt für ein Abenteuer, das Wiersig nicht mehr vergessen wird. Um fünf Uhr morgens springt er in England ins Wasser und kommt zehn Stunden später in Frankreich wieder an Land. „In Deutschland hat der Ocean´s Seven nicht so die große Bedeutung. Da sagen die Leute: ‘Das ist schon ganz nett‘. Erzählst du in England in einem Pub, dass du den Ärmelkanal durchschwommen bist, rasten die Leute aus und schmeißen die nächste Runde“, sagt Wiersig. Die Schwimmer dürfen keinen Neoprenanzug anziehen und sich nicht am Begleitboot festhalten. Der Paderborner plant sein Abenteuer akribisch, wie eine Expedition, in die er 120.000 Euro investiert. Oft wartet man jahrelang auf einen Startplatz für die unterschiedlichen Etappen, vor Ort muss immer ein Offizieller dabei sein, der darauf achtet, dass alles regelkonform abläuft.
Skipper müssen meist Jahre im Voraus gebucht werden: „Du musst erst mal Leute finden, die hierfür gemacht sind. Es ist keine Butterfahrt, wenn du nachts über das Meer fährst und keine Orientierungspunkte hast. Die meisten Fotografen mussten aufgeben, da sie sich ständig übergeben haben. Im Reden sind die meisten ganz groß, doch wenn abgeliefert werden muss, wird es einsam.“ Wiersig liefert ab. Nach dem Ärmelkanal (2014) und dem Kaiwi-Kanal (2015) folgen 2016 der Nordkanal (34 km/ 12:17 Stunden) sowie der Santa-Cantalina-Kanal (34 km/ 9:48 Stunden).
2018 durchschwimmt der Extremsportler die Tsugaru-Straße in Japan. Die Wellen sind aufgrund eines Taifuns aufgewühlt, aus 20 Kilometern werden am Ende 42 Kilometer und 13 Stunden, die Wiersig im Wasser verbringt. „Alles in deinem Körper sagt dir: Du musst da raus. Das ist eine Todeszone.“ Es gibt Momente, in denen er ans Aufgeben denkt. Doch das Projekt stellt er nie infrage: „Mitten in der Nacht ist ein Buckelwal unter mir hergeschwommen und hat mich begleitet. Man ist für einen kurzen Moment Teil etwas Magischen, Teil des Ozeans.“ Seine Eindrücke verarbeitet Wiersig in Form eines Buches: „Nachts allein im Ozean. Mein Weg durch die Ocean´s Seven“.
Zudem wird er Meeresbotschafter – der leidenschaftliche Schwimmer erlebt die Vermüllung seines geliebten Ozeans 200 kilometerlang hautnah: „Ich sitze mit meinem Hintern ja nicht gemütlich auf einem Kreuzfahrtschiff. Ich schwimme verletzlich im Meer rum und hatte, wie die Tiere, eine direkte Perspektive auf den Ozean.“ 2018 (Cook-Straße, 26 km/ 8:02 Stunden) und im Sommer 2019 (Straße von Gibraltar/ 14 km/ 4:17 Stunden) absolviert Wiersig die letzten Etappen.
Die letzten Meter sind bittersüß. Er weiß, dass sein Abenteuer nun vorbei ist. Aber er weiß eben auch, dass er etwas Unglaubliches geschafft hat. Der 47-Jährige ist der 16. Mensch, der die Ocean´s Seven schafft, der erste Deutsche. Und der erste Mensch, der sämtliche Meerengen im ersten Versuch bezwingt. Wiersig hat sich nicht an seiner Leistungsgrenze bewegt, sondern meilenweit darüber.