Bergamo – Am 19. Februar schien das Coronavirus noch weit entfernt. Auch in Italien. Ein fataler Irrtum, wie sich jetzt herausstellt. An diesem Mittwochabend fand in Mailand ein Fußballspiel statt, das sich als Beschleuniger der Epidemie ausgewirkt haben könnte. Immer mehr Experten sind davon überzeugt, dass das Champions-League-Duell zwischen Atalanta Bergamo und dem FC Valencia verhängnisvolle Folgen hatte.
Gestern äußerte sich dazu erstmals auch der oberste Katastrophenschützer Italiens. Angelo Borrelli, Chef des Zivilschutzes, sagte in einem Interview: „Das Spiel war ein potenzieller Zünder.“ Im Nachhinein sei man klüger.
Der historische Erfolg von Atalanta mit den deutschen Profis Robin Gosens und Lennart Cyborra begünstigte offenbar die Pandemie. Die Vereinsführung hatte das erste Champions-League-K.o.-Spiel der Vereinsgeschichte nach Mailand verlegt. Während in Bergamo nur 21 000 Zuschauer live die Spiele verfolgen können, sind es im berühmten Giuseppe-Meazza-Stadion wesentlich mehr, was sich auch auf die Einnahmen auswirkt. 44 236 Zuschauer besuchten das Spiel, das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung Bergamos. „Das hat die Ausbreitung beschleunigt“, sagt Bergamos Bürgermeister Giorgio Gori.
Unter den Tifosi waren damals auch Bewohner von Gegenden bei Bergamo, die bald als Corona-Hotspots bekannt wurden. Mehr als 500 Anhänger kamen aus der Gegend von Alzano Lombardo, in dessen Krankenhaus nicht genügend Schutzmaßnahmen ergriffen worden waren. Mit verheerenden Folgen.
Im Meazza-Stadion trug sich gleichzeitig Fußballgeschichte, aber offenbar auch Verhängnisvolles zu. Bergamo siegte 4:1, Zehntausende feierten, umarmten sich beglückt – und steckten sich gegenseitig an. Schon auf der Fahrt zum Stadion kann sich das Virus ausgebreitet haben, auf Raststätten, Parkplätzen, in Bars und in der U-Bahn. „Wir können sagen, dass Atalanta-Valencia das Spiel null gewesen ist“, sagte der römische Infektiologe Francesco Le Foche. „Die Epidemie war wohl schon einige Wochen davor auf dem Land ausgebrochen und war viel größer, als wir dachten, in den Fabriken, bei Landwirtschaftsmessen und in den Bars der Dörfer“, sagte der Mailänder Virologe Massimo Galli. Zwei Wochen nach dem Spiel, die Zeit, die Experten als Inkubation des Virus ansetzen, explodierten die Ansteckungszahlen in Bergamo.
Heute ist Bergamo die am stärksten vom Coronavirus betroffene Stadt Italiens. Mehr als 1000 Infizierte gab es in der Region, die Zahlen steigen weiter. Die Bilder von Militärfahrzeugen, die die Särge der Opfer in andere Orte transportieren, gehen um die Welt. Bergamo kommt mit den Bestattungen nicht nach. Besonders bitter ist, dass ein kollektiver Glückstaumel die Tragödie befeuerte. Auch das Rückspiel vor leeren Rängen in Valencia gewann Atalanta (4:3/10. März) – es war der vorerst letzte Grund zum Feiern für die Region. JULIUS MÜLLER-MEININGEN