„Ich habe ein Jahr gewonnen“

von Redaktion

Turner Marcel Nguyen kämpfte nach OP um Olympia-Teilnahme – nun ohne Zeitdruck

München – Als Marcel Nguyen sich im Herbst an der Schulter operieren ließ, ging die Rechnerei los. Der Reha-Plan bis zur angestrebten vierten Olympia-Teilnahme war eng. Der 32-Jährige hätte jede Trainingsminute gebraucht – und ist nun erleichtert.

Herr Nguyen, was überwiegt: Erleichterung, Trauer, Wut?

Je weiter sich die Corona-Krise entwickelt hat, desto klarer wurde mir, dass die Spiele nicht 2020 stattfinden können. Jetzt ist es deshalb für mich eine Erleichterung, dass sie verschoben wurden. Ich bin seit eineinhalb Wochen komplett aus dem Training. Nach meiner Verletzung hätte ich jede Trainingseinheit gebraucht. Und wenn sich das jetzt noch ein, zwei Wochen verzögert und das IOC dann gesagt hätte, die Spiele finden statt, hätten sie für mich wahrscheinlich trotzdem nicht stattgefunden.

Die richtige Entscheidung für Sie – und den Sport?

Definitiv. In der Situation, in der wir uns befinden, gibt es dazu keine zwei Meinungen. Sport ist meine Leidenschaft, ich mache ihn gerne und immer. Aber in dieser Situation wäre es verantwortungslos, Olympische Spiele stattfinden zu lassen. Da geht es um den Fairness-Gedanken.

Hat sich das IOC zu lange Zeit gelassen?

Wenn sie sich noch vier Wochen Zeit gelassen hätten, wäre das zu lange gewesen. Die ganze letzte Woche war schon blöd für uns, man hatte nur Gedanken wie: Wie geht es weiter? Wie kann ich mich fit halten? In unserem Sport dauert es ewig, bei alter Stärke zu sein, wenn man kurz weg ist. Ich weiß nicht, wie ich das noch vier Wochen hätte machen sollen.

Sie hätten die Entscheidung wahrscheinlich für sich selber treffen müssen.

Ich hätte in ein paar Wochen sagen müssen: Jetzt reicht es für mich nicht mehr. Da wäre ein großer Traum geplatzt –aber damit wäre ich ja nicht der erste Sportler gewesen, der verzichtet.

Sie haben nun eigentlich ein Jahr gewonnen.

Ich habe auf jeden Fall Zeit gewonnen. Ich muss jetzt nicht morgen an die Ringe gehen und hoffen, dass meine Schulter es aushält. Ich habe in den letzten Wochen schon einige Sachen gemacht, die sich noch nicht richtig gut angefühlt haben. Aber sie mussten halt sein, weil ich Zeitdruck hatte. Der fällt jetzt weg.

Wie läuft die Reha?

Bisher lief es sehr gut. Erst vor ein paar Wochen habe ich gedacht: Wenn alles glatt läuft, kann ich es schaffen.

Wie haben Sie dann zuhause trainiert?

Ich habe einen Mini-Barren zuhause, ein kleines Sportzimmer. Man kann sich körperlich fit halten, aber das ist nicht vergleichbar mit dem Training in der Halle.

Vor einer Woche haben Sie kritisiert, dass die Halle in Stuttgart geschlossen wurde. Bleiben Sie dabei?

Nein, das finde ich jetzt absolut angemessen. Als Sportler soll man Vorbild sein. Wenn junge Leute auf Instagram sehen, dass ich jeden Tag in der Halle bin, denken die sich: Dann kann ich auch rausgehen und mich mit Freunden treffen. Das sehen auch meine Kollegen so, beispielsweise mein Freund Andy Toba. Aufgrund des Föderalismus ist es aber eben auch so, dass in Berlin und Hannover in den Hallen trainiert wurde. Wahrscheinlich hätte ich mich nur schwer intern für die Spiele qualifiziert…

Ihre Karriere wurde nun um ein Jahr verlängert.

Das kann man so sehen. Aber ich hatte für mich sowieso schon die European Championships 2022 in München ins Auge gefasst. Das wäre ein schöner Abschluss, in der Heimat – perfekt.

Interview: Hanna Raif

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