„Der Schock dieser Epidemie wird lange in den Gliedern sitzen“

von Redaktion

Philosoph Gunter Gebauer spricht über die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Sport und die Gesellschaft

München – Die Sportwelt liegt auf Eis. Olympische Spiele und Fußball-EM? Auf 2021 verschoben. Bundesliga? Als Geisterliga vielleicht wieder ab Mai. Wir sprachen mit dem Philosophen und Sportwissenschaftler Gunter Gebauer, 75, über die Relevanz und Verantwortung des Sports in Zeiten von Corona.

Herr Professor Gebauer, in der Reihe „Reclam 100 Seiten“ haben sie gerade ein Buch zum Thema Olympia veröffentlicht. Jetzt wurden die Spiele zum ersten Mal in ihrer Geschichte verschoben. Zeit für eine Ergänzung.

(lacht) Ja, das Thema hat uns schnell wieder eingeholt. Im Ernst: Die Entscheidung war längst überfällig. Weder die japanische Regierung noch Thomas Bach (IOC-Präsident) haben in ihrer Halsstarrigkeit eine gute Figur abgegeben. Bach hält sich für einen großen Diplomaten, Shinzo Abe (japanischer Premierminister) hatte Olympia in sein Wahlprogramm eingeflochten. Es war kläglich, wie beide Seiten herumlaviert haben. Erst auf Druck der Athleten ist Bewegung reingekommen. Das Publikum hat unter der Last der Pandemie ohnehin andere Interessen.

Was ist Ihnen bei den Bildern vom vergangenen Wochenende durch den Kopf gegangen, als 50 000 Japaner zum olympischen Feuer nach Sendai pilgerten?

Ich war schockiert. Die Logik des japanischen Krisenmanagements erschließt sich mir ohnehin nicht. Sie haben sehr strikte Einreisebedingungen, im öffentlichen Leben dagegen wurden die Zügel bis zuletzt sehr locker gelassen.

Auch im deutschen Fußball wurde vor drei Wochen bei Leipzig gegen Tottenham noch vor Zuschauern gespielt.

Der DFB hätte das Spiel in Leipzig niemals gestatten dürfen. Das war grundfalsch, alleine schon durch seine Wirkung. Wenn es gut läuft, brüsten sich die Vereine mit ihrer Bedeutung für die Region, gerieren sich als Bannerträger der Kultur. Wenn es darum geht, Unheil abzuwenden, dann hört man nichts.

Zwei Tage nach Leipzig wurde in der Bundesliga die Reißleine gezogen.

Ja, gegen großes Widerstreben vieler Fußballfunktionäre, was sehr enttäuschend war. Ich hätte gedacht, dass der DFB-Präsident und die Chefs der einflussreichen DFL-Clubs früher einsichtiger gewesen wären. Sie hatten die Tragweite des Problems gar nicht richtig begriffen, das hat mich entsetzt.

Wie beurteilen Sie die Aussagen von FIFA-Präsident Gianni Infantino, der einen „Schritt zurück“ vorschlägt, „um die Gesundheit der Spieler zu schützen“, weniger Turniere, „dafür interessantere“?

(lacht) Soll man das glauben? Alles, was Herr Infantino bisher gemacht hat, dient dazu, die Einnahmen der FIFA zu erhöhen. Weniger Turniere? Damit kann er nur die Konzentration auf die Elite der Elite meinen, diese Club-WM, um am Ende noch mehr Geld für seine Organisation zu generieren. Gesundheit? Schutz der Spieler? Ich traue diesem Mann nicht über den Weg.

Rechnen Sie mit einem Bedeutungsverlust des Spitzensports, oder wird nach der Krise wieder alles weitergehen wie zuvor?

Natürlich muss man abwarten, wie lange dieser erzwungene Stilllegung andauert. Aber ich bin mir sicher, dass sich die Einstellung der Zuschauer zumindest für eine gewisse Zeit relativieren wird. Wir werden eine Dämpfung des Interesses und der Akzeptanz erleben.

Was meinen Sie konkret?

Der Schock dieser Epidemie wird der Gesellschaft lange in den Gliedern sitzen. Ich denke, dass wir die kritische Masse an nachdenkenden Leuten in der Krise erreichen werden. Die Exzesse des Glamourbetriebs Spitzenfußball werden nicht mehr in dieser hemmungslosen Ergebenheit hingenommen werden, wie bisher. Nach dem Motto: Der Whistleblower für die Football-Leaks sitzt ja jetzt im Gefängnis, und weiter geht’s.

Das Gute im Schlechten …

Genau. Ganz pragmatisch gedacht: Was folgt auf Erschütterungen? Technische Verbesserungen, politische Anpassungen . . . und vielleicht eine Änderung der Einstellung? Die Aufmerksamkeit für den Glamoursport ist grob übertrieben, da müssen wir uns nichts vormachen. Für mich persönlich hört die Sportbegeisterung dann auf, wenn es um die Gesundheit geht. Das ist bei Doping der Fall. Und jetzt in der Coronakrise auf breitester gesellschaftlicher Ebene.

E-Sports ist zumindest nicht direkt gesundheitsschädlich.

(lacht) Was das angeht, bin ich ein konservativer Mensch: Gemeinsame körperliche Aktivität ist durch Simulation nicht zu ersetzen. Trotzdem kann ich die Faszination nachvollziehen. Ich sehe es als Kompensation für die Zeit der gesperrten Sportplätze, für manchen ist es vielleicht sogar ein Ersatz, weil er mit seinem Avatar Tricks hinbekommt, die er im echten Leben nicht schafft. Beifall von mir braucht und wird wohl auch niemand dafür erwarten.

Welche erbaulichen Sport-Konserven können Sie empfehlen?

Ich habe im Zuge der Recherchen zu meinem Olympiabuch Archivaufnahmen von den Spielen in Helsinki 1952 gesehen – mit herrlichen Szenen von den Zatopeks, die beide am selben Tag Gold gewonnen haben. Wie sie da nebeneinander im Gras liegen und Emil mit der Hand über Danas Gesicht spielt, bis sie Tränen lacht und ihn verliebt ansieht. Das ist herzerwärmend. Also, wer da was findet: ansehen! Genauso wie die Olympiafilme über Rom 1960 und Tokio 1964. Vor allem Rom. Da kommt so viel Flair rüber. Die haben das damals mit so viel Gefühl gemacht. Der Marathonlauf am Kolosseum vorbei über die Via Appia Antica zum Konstantinsbogen. Und dann kommt da aus dem Dunkel auf der Zielgeraden Abebe Bikila ins Licht, wie er als Barfußläufer Gold gewinnt. Diese Bilder bewegen mich bis heute. Das ist die Faszination des Sports.

Interview: Ludwig Krammer

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