Crash zur Unzeit

von Redaktion

Die Beziehung zwischen Bayern und Boateng leidet erneut – Gespräche folgen

VON HANNA RAIF

München – Im Oktober 2019 war Jerome Boateng in ähnlicher Mission unterwegs. Ein ICE-Sprinter brachte den 31-Jährigen von München nach Berlin, über Wolfsburg ging es zurück. Am Gleis wartete Boateng in einem Aufzug, der eine Inkognito-Reise vermuten ließ. Schwarzer Kapuzen-Pullover bis weit über den Kopf gezogen, Kopfhörer um den Hals. Erkannt – und abgelichtet – wurde er freilich trotzdem, aber das war nicht schlimm. Denn anders als der jüngste Trip des Abwehrspielers war jener, den er im Herbst zu seinem Sohn Jermar unternahm, mit den Verantwortlichen des FC Bayern abgesprochen. „Private Angelegenheit“, hieß es damals. Schnell vergessen.

Man muss zugeben, dass allein die Fotos vom jüngsten Hauptstadt-Ausflug Boatengs spektakulärer daherkommen als jene von der Bahnsteigkante im Oktober. Zwar ist er auf diesen nicht zu sehen, dafür aber sein Auto, ein Mercedes AMG, der auf der A9 über der Leitplanke hängt. Wer im auslaufenden Winter schon (oder noch?) mit Sommerreifen fährt, kann blöd erwischt werden. Wer aber durch einen Unfall dabei ertappt wird, wie er sich trotz geltender Corona-Ausgangsbeschränkungen hunderte Kilometer weit von seinem Wohnort aufgehalten hat, ist noch blöder dran. Die Geldstrafe, die Boateng am Dienstagabend vom FC Bayern für sein Verhalten aufgebrummt bekam, war legitim und zwingend notwendig (Stichwort: Vorbildfunktion). Der Ärger, den Boateng umgehend äußerte, aber irgendwie auch verständlich.

„Wenn es dafür eine Strafe gibt, dann Respekt“, ließ sich der Weltmeister in der „Bild“ zitieren – und fügte an: „Ich finde das traurig.“ Den Fehler, den Verein nicht über seine spontane Fahrt nach Berlin zu unterrichten, gab er zu, sagte aber mit Blick auf die gesundheitlichen Probleme seines vier Jahre alten Sohns: „Ich möchte den Vater sehen, der in so einem Moment nicht losfährt, um an seiner Seite zu sein.“ Womöglich hätten auch andere alles stehen und liegen lassen – aber Boateng ist eben Boateng. Und die Geschichte passt mal wieder in das Bild, das seine Beziehung zu diesem Club in den vergangenen Jahren geprägt hat.

Es gab viele Tiefpunkte – zum Beispiel einen unbewilligten Trip nach New York zu einer Rihanna-Party oder das Auslassen der Meisterfeier inklusive dem öffentlichen Ratschlag von Uli Hoeneß, den Verein zu verlassen. Es gab aber zuletzt wieder einige Höhepunkte – zum Beispiel die jüngsten Trainingseindrücke sowie die Leistungen als Stammspieler unter Hansi Flick. 24 von bisher 37 Pflichtspielen der aktuell unterbrochenen Saison hat Boateng absolviert, zuletzt war er eine feste und verlässliche Größe. Für die anstehenden Gespräche, die alle bis 2021 gebundenen Spieler führen werden, hatte Boateng auf dem Platz vorgebaut – und in Flick einen Fürsprecher.

Ein Wechsel im Vorjahr zu Juventus Turin war bekanntlich in letzter Sekunde gescheitert. Dass Boateng sportlich noch einmal wertvoll sein würde, hatten die wenigsten vor der Saison erwartet. Seine Zukunft hängt auch damit zusammen, wie schnell Niklas Süle zurück zu alter Form findet und wie gut sich Lucas Hernandez entwickelt. Boatengs Optionen sind klar: Vertrag aussitzen und 2021 ablösefrei wechseln. Dieses Jahr gehen und den Bayern Geld in die Kasse spülen. Oder verlängern?

Bisher wurde Boateng – wie Javi Martinez – noch nicht in die Chefetage gebeten, um über vertragliche Dinge zu reden. Priorität haben Manuel Neuer, Thomas Müller, David Alaba und Thiago, erst nach Entscheidungen in diesen vier Fällen dürfen die nächsten Stars vorsprechen. Im „kicker“ bestätigte Boateng gestern, dass noch keine Gespräche geführt worden seien. Er sagte außerdem: „Ich muss nicht auf Teufel komm raus weg vom FC Bayern, ich habe ja noch einen Vertrag.“ Überhaupt müsse der Verein „ja auf mich zukommen“.

Die Sätze wurden gesprochen, bevor die Geldstrafe publik wurde. Sie sind also mit Vorsicht zu genießen. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Beziehung zwischen Boateng und dem FC Bayern diesen für alle Seiten unglücklichen Berlin-Trip nicht mehr verkraftet.

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