München – Der Flieger ging im Mai 2016 direkt aus Bern, aber die EM der Turner, die in der Schweizer Hauptstadt drei Monate vor den Olympischen Spielen in Rio stattgefunden hatte, war für Andreas Hirsch an Bord schon kein Thema mehr. Der Fokus des Bundestrainers lag dort, wo er nach der Landung hinfahren würde. Direkt zur Hochzeit seines ehemaligen Athleten Ronny Ziesmer. „Da hat sich ein Kreis geschlossen“, sagt der 61-Jährige.
18 Jahre lang hatte Andreas Hirsch die deutsche Turn-Riege der Männer betreut, als der Deutsche Turner-Bund am Montag seinen Rücktritt bekannt gab. „Im Guten“, wie der Berliner im Gespräch mit unserer Zeitung versichert, aber das ist nur ein Nebenthema. Hirsch blickt zurück auf zahlreiche Erfolge, unter ihm hat das deutsche Turnen einen unverhofften Aufschwung erlebt, der 2016 mit dem Olympia-Gold von Fabian Hambüchen seinen Höhepunkt fand. „Aber“, sagt er, „Erfolge und Hochgefühle sind zwar schön, trotzdem gibt es Wichtigeres im Leben.“ Die Gesundheit zum Beispiel, und da kommt wieder Ziesmer ins Spiel.
Diese Szene vom 12. Juli 2004 kann, will und wird Hirsch nie vergessen. Das „mulmige Gefühl“, das ihn überkommt, wenn er von jenem Trainingsunfall in Kienbaum spricht, bei dem Ziesmer mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, merkt man ihm an. „Es gab diese eine Stelle in meiner Karriere, an der ich vor dem Aufhören stand.“ Hirsch war derjenige, der mit ins Krankenhaus fuhr, er war derjenige, der die Nachricht der Querschnittslähmung als einer der Ersten hörte. „Menschliche Katastrophe“, sagt er heute, und er gibt zu: „Ohne die mentale Stärke von Ronny hätte ich aufgegeben.“ Der Leidtragende selber war es, der sein Team und Hirsch aufforderte, weiterzukämpfen. „Er hat uns in den Arsch getreten“, sagt Hirsch. Da kommt der Berliner durch.
Harte Schale, weicher Kern, vielleicht kann man Andreas Hirsch so am treffendsten bezeichnen. Auch zur Begrüßung am Telefon sagt er, dass er eigentlich gerade seinen Resturlaub abbaue, ehe er am 1. Mai seine neue Stelle bei der Bundespolizei antritt; er bittet um ein kurzes Gespräch. Am Ende dauert es fast 40 Minuten. Hirsch erzählt, weil er viel erlebt hat. Er hätte sogar noch mehr erleben können, Olympische Spiele in Tokio 2021 zum Beispiel („das wurde mir natürlich angeboten“), auch 2024 Paris wären eine Option gewesen. Aber „das hätte so einen Touch gehabt“, den er nicht mag: „Manch einer weiß nicht, wann Schluss sein muss.“ Er schon. Jetzt. Seit 55 Jahren, seitdem er als Bub mit dem Turnen angefangen hat, habe er nie ein Wochenende gehabt. „Es ist an der Zeit.“
Die vergangenen Monate waren für Hirsch noch einmal eine Reise in die Vergangenheit, denn auch ein Ü 60-Bewerber muss Zeugnisse vorweisen, „da musste ich ganz schön kramen“, sagt er lachend. Seinen neuen Job als als Zivilangestellter Trainer an der Bundespolizeisportschule tritt er Anfang Mai an, wie genau, das weiß er noch nicht. Auch im Olympischen und Paralympischen Trainingszentrum (KOPT) in Kienbaum muss auf die Corona-Krise reagiert werden, Aufnahmeprüfungen zum Beispiel sind derzeit nicht möglich. Trotz der Ungewissheit freut sich Hirsch auf den neuen Alltag – bei dem er dem DTB verbunden bleibt.
Als „neue Tür“ bezeichnet er die Konsequenz aus seinem Rückzug, und „wenn jemand was von mir will, werde ich helfen“. Was ihm fern liegt: „Besserwisser zu sein.“ Er wird sich nicht in den Vordergrund drängen, das hat er noch nie, nicht mal, als seine Turner bei der Heim-WM 2007 sensationell Team-Bronze holten. Aber er will gerne beraten, wenn es gewünscht ist. Bei der Nachfolgersuche zum Beispiel. Egal, wer es wird, Hirsch prognostiziert: „Wenn man sie geschickt anpackt, dann ist das eine reizvolle Aufgabe.“ Der Neue könne durch die Verschiebung der Spiele nur gewinnen. Als Beispiel nennt Hirsch Marcel Nguyen, der unter ihm – gemeinsam mit Philipp Boy und Fabian Hambüchen – gewachsen und zum Star geworden ist. Weil alle Nationen zur Pause gezwungen sind, gewinnen vor allem ältere Turner, die konstant solide Leistungen bringen. Sie brauchen nur die richtige Führung.
Apropos: Hirsch sieht seinen Erfolg darin begründet, auch mal angeeckt zu sein. „Unterschiedliche Meinungen sind zielführend“, sagt er, vor allem mit Blick auf die Hambüchens. „Ruppig“ sei es zwischen Vater Wolfgang und ihm manchmal zugegangen, keine Frage. Am Ende aber wollten alle nur: Erfolg!
Auch in Rio 2016, bei der goldenen Reck-Übung von Fabian, schloss sich so ein Kreis. Und eine der ersten Reaktionen auf Hirschs Rückzug kam am Montag: Von der Familie Hambüchen.