Skive – Die Stimme von Jürgen Klopp trifft Thomas Gronnemark wie ein Blitz. Es ist Juli 2018 und der Familienvater besucht mit seiner Frau und beiden Kindern gerade ein Schokoladenmuseum nahe Skive in seiner dänischen Heimat. Er findet ein ruhiges Eckchen. Hört seine Mailbox mit der Nachricht ab.
Eine englische Handynummer war es. Nicht ungewöhnlich. Der Däne ist weltweit vernetzt. Anrufer aus aller Welt für ihn Alltag. Doch nicht dieser. Nicht diese Stimme. Jürgen Klopp. Der Deutsche Erfolgstrainer will ihn sprechen. Für Schokolade hat Gronnemark keinen Sinn mehr. Er ruft zurück. Keine Reaktion. Speichert die Nummer ab und fährt nach Hause. Auf dem Heimweg bewacht seine Frau das Telefon. Plötzlich schreit sie: „Es ist Jürgen!“ Ihr Mann fährt sofort rechts an, rutscht fast in einen Graben. „Jürgen hatte von meiner Arbeit gehört und wollte mich kennenlernen“, erinnert sich der 44-Jährige an die Minuten, die sein Leben verändern. Eine Woche später sitzt er im Flieger nach Liverpool. Drei Wochen später ist er Teil des Teams vom FC Liverpool – als Einwurftrainer.
Bis zum Traumjob in der Premier League ist es für den Mann mit dem ungewöhnlichen Beruf allerdings ein weiter Weg. Gronnemark wächst im Norden Dänemarks auf, ist schon in Kindestagen dem Fußball verfallen. Das liegt vor allem an seinen beiden älteren Cousins, die überdurchschnittlich weite Einwürfe beherrschen. Ihnen eifert er nach. Doch nicht nur die Einwürfe des jungen Thomas überzeugen. Er spielt als Jugendlicher in der höchsten dänischen Liga. „Zum Profi war ich dennoch nicht gut genug“, sagt er heute offen. Als junger Erwachsener konzentriert er sich auf seine Schnelligkeit und wechselt zur Leichtathletik.
Schon nach einem Jahr gehört er zur dänischen Sprint-Nationalmannschaft. Über sechs Jahre feiert Gronnemark mehrere dänische Meistertitel. 2000 wird er Europameister mit der 400-Meter-Staffel. Auf Dauer nagt allerdings der Einzelsport an ihm. „Ich bin Teamplayer. Das viele Training in der Leichtathletik ist dagegen schon sehr einsam“, so der Sprinter über seinen Abschied von der Leichtathletik.
Während Gronnemark noch seine einsamen Runden dreht, trainiert nebenan die neu gegründete Bob-Mannschaft des kleinen Landes, das für hervorragende Handballer bekannt ist, nicht für Eiskanal-Tradition. Dem früheren Sprinter ist das egal. Er will in einer Gemeinschaft etwas bewegen und schließt sich dem Bob-Tross an. Mit einem herausragenden Antritt und seiner Körpermasse ist er prädestiniert für die neue Aufgabe und reist im Weltcup durch die Welt.
In den Sommermonaten lässt ihn der Fußball-Einwurf aber nicht los. In seinem Wohnort Skive durchforstet er die örtliche Bibliothek nach Lehrmaterial – vergeblich. „Gut, dann muss ich es wohl selber machen“, erzählt der Nord-Däne, der seit seiner Bob-Karriere fließend Deutsch spricht. Sechs Monate arbeitet er ein Programm zum Einwurftraining aus und bewirbt sich beim nächstgelegenen Erstliga-Club Viborg FF. Mit seiner Unterstützung stürmt der finanzschwache Aufsteiger 2006 bis auf Platz vier und erzielt erstaunlich viele Treffer nach Einwürfen.
Wie schafft ein Ex-Leichtathlet und ehemaliger Bobfahrer es, den Fußball zu bereichern? „Mannschaften, die ohne Konzept einwerfen, verlieren zu 50 Prozent nach einem Einwurf den Ball“, so Gronnemark, „bei so einer Quote mit dem Fuß könnte man nie Profi werden.“ Er teilt seine Theorie in drei Bereiche: In schnelle, kluge und weite Einwürfe. „Viele Vereine legen leider nur Wert auf die weiten Einwürfe. Das ist aber nur ein Teil meiner Arbeit“, berichtet der zweifache Familienvater. Bis vor Kurzem hielt Gronnemark selber den Weltrekord für den weitesten Einwurf – mit 51,33 Metern: „Inzwischen hat ein junger Amerikaner mich überboten. Kein Problem für mich, ich gönn’s ihm.“
Ihm geht es viel mehr um Ballbesitz über das gesamte Spielfeld und Kontrolle nach dem Einwurf. Außerhalb von seiner Heimat wird man auf den Tausendsassa aufmerksam, als der FC Midtjylland ihn engagiert. Der dänische Verein gilt als Vorreiter für das Hinzuziehen von Experten aus allen erdenklichen Bereichen. Und mit dem Einwurftrainer erzielt Midtjylland wenig später in einer Saison 35 Tore nach Einwürfen. Internationale Anfragen kommen. Mit dem Anruf von Jürgen Klopp als Krönung.
„Für einen großen Verein zu arbeiten, war immer mein Traum. Ich musste keine Sekunde überlegen“, schwärmt der Sport-Fan über seinen berühmtesten Arbeitgeber. Der Start an der Anfield Road verläuft jedoch nicht ohne Störfeuer. Der englische Ex-Profi und TV-Experte Andy Gray spottet: „Nimm den Ball in die Hand und wirf. Mehr ist es nicht. Dann werde ich demnächst Anstoß-Trainer.“ Jürgen Klopp zweifelt nie an den Fähigkeiten seines Mitarbeiters: „Thomas ist ein guter Typ. Das muss ich ehrlich sagen. Er hat uns schon jetzt weitergebracht und die Jungs mögen es, wenn jemand weiß, wovon er spricht“, sagte Klopp im August 2018 und fügte hinzu: „Man kann nicht genug Spezialisten um sich herum haben. Wir haben Fitnesstrainer, verschiedene Ärzte, Ernährungsberater und nun auch jemanden für Einwürfe.“ Auch dank der Expertise des neuen Einwurftrainers gewinnt das Klopp-Team 2019 die Champions League und schaltet auf dem Weg den FC Bayern aus. Gronnemark rechnet vor: „Bayern kann sich bei Einwürfen unter Druck enorm verbessern. Zum Vergleich: Liverpool behält inzwischen nach Einwürfen in über 70 Prozent der Fälle den Ball. Bayern liegt gerade einmal bei 28 Prozent. Auf diesem Niveau machen solche Kleinigkeiten den Unterschied aus.“
Vor dieser Saison hat er bei RB Leipzig gearbeitet, eine regelmäßige Zusammenarbeit ist daraus nicht entstanden. Gerne würde er auch wieder in Deutschland aktiv sein. Mit einer Einschränkung: „Ich arbeite nicht gleichzeitig bei direkten Konkurrenten“, stellt er klar. Parallel beim FC Bayern und bei Borussia Dortmund zu arbeiten, käme für ihn nicht infrage. Diese Erfahrung musste auch Manchester United machen. Seitdem er mit dem FC Liverpool zum Höhenflug angesetzt hat, buhlen die „Red Devils“ um seine Dienste. Doch der Däne steht loyal zu Klopp.
In Corona-Zeiten arbeitet auch er im Homeoffice und schickt seine Videoanalysen von Nord-Dänemark in die Welt. Ausgelacht wird der Däne so gut wie überhaupt nicht mehr – wenn nur von „Fußball-Dinos“, wie er sagt. Während seine Klienten Pokale in die Höhe stemmen.