München – Führen die gelockerten Corona-Bestimmungen zu „neuer Leichtsinnigkeit“? Sind speziell die Fußball-Fans so „ausgehungert“, dass sie am Wochenende, wenn es in den Bundesligen wieder losgeht, nun doch hinaus zu den Stadien pilgern? Hinein dürfen sie nicht, doch man könnte sich davor versammeln und die Mannschaft aus der Halbdistanz supporten. So wie beim Geisterspiel Mönchengladbach – Köln im März, kurz vor Bundesligaabbruch geschehen. Oder wie in der 2. Liga mal vor Jahren bei Dynamo Dresden – Ingolstadt. Hinter einer Kurve, so erinnert sich der damalige Ingolstädter und heutige DAZN-Experte Ralph Gunesch, standen Dynamo-Fans und verfolgten die Partie im Live-Stream. Mit zehn Sekunden Verzögerung. Die zur jeweiligen Spielszene passenden Reaktionen erfolgten mit zeitlichem Abstand, sodass sie zur Realität gar nicht mehr passten. Guneschs Fazit: „Geisterspiele sind fürn Arsch.“
Die Gewerkschaft der Polizei, um eine Aussage mit Schlagzeilenkraft nie verlegen, hat durch ihren Vizevorsitzenden Jörg Radek im „Kicker“ ihre Sorge platziert, dass es bei der Wiederaufnahme des Bundesligabetriebs zu Versammlungen vor den Arenen kommen könnte – obwohl Christian Seifert, Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), beruhigt hatte. „Ich bin mir nach Gesprächen mit den Fan-Organisationen sicher, dass sie sich nicht so verhalten werden, wie ihre Kritiker ihnen das pauschal unterstellen.“
Leichtes Aufstöhnen nun bei den Fan-Projekten an den Bundesliga-Standorten: die Polizei-Gewerkschaft mal wieder. Dabei gibt es keine Anhaltspunkte, dass die Fanszenen sich heute anders verhalten würden, als sie es in den vergangenen zwei Wochen kommuniziert hatten. Man verfolgt die Foren, die einschlägigen Websites – nirgendwo finden sich Hinweise auf eine veränderte Einstellung. Das Fanprojekt München etwa, finanziert von Freistaat Bayern, Landeshauptstadt München, DFL und DFB, wäre am 26. Spieltag normal an der Alten Försterei in Berlin, wo Union am Sonntag um 18 Uhr den FC Bayern erwartet, vor Ort. Doch im Laufe dieser Woche stellte sich die Frage: Wozu? Es wird ja niemand kommen, dem man helfen müsste, den man betreuen könnte.
Michael Gabriel ist der oberste „Fan-Seelsorger“ in Deutschland. Er leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte, die es seit 1993 gibt. „An unserer Einschätzung hat sich nichts geändert. Sie beruht darauf, was organisierte Gruppen sagen.“ Was aber nicht auszuschließen sei, meint er, „ist, dass es einzelne Fans zu den Stadien zieht. Bevor sie daheim allein vor dem Fernseher sitzen, wollen sie lieber Atmosphäre aufschnappen“. Dass der Bayern-Fan aus der Berliner Gegend also durch Köpenick strolcht – denkbar. Dass Fans aus dem Raum München in Busladungen dort aufschlagen – ausgeschlossen. Gerade die Münchner Südkurve gilt als gut organisiert – und sie hat sich, sieben Fan-Clubs haben unterzeichnet, auch aktuell noch gegen eine künstliche Atmosphäre bei Geisterspielen ausgesprochen.
Einige Ultra-Gruppen haben zu erkennen gegeben, dass sie den Rest der Saison komplett ignorieren werden, sie wollen auch gar nicht, dass Zaunfahnen in den leeren Stadien hängen, um Normalität vorzutäuschen. Die Ultras Düsseldorf erklärten am Mittwoch die Saison für beendet, Hoffenheimer Ultras (Crescendo Hohenlohe) riefen wie die Hamburger Gruppierung Castaways dazu auf, das Stadionumfeld zu meiden.
Wobei das in manchen Profifußballstädten ohne die Spieltagsstruktur auch schwer zu erreichen sein wird. Die Arenen in Sinsheim-Hoffenheim und Augsburg liegen an Autobahn und Bundesstraße, Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind ein gutes Stück entfernt, Düsseldorf hat einen Messebahnhof, der dann einfach nicht angefahren wird, und vor der Allianz Arena auf der weitläufigen Esplanade würde sich ein Menschenauflauf verlieren.
Treffen in Sportbars? Sind zumindest am ersten Bundesliga-Wochenende kaum möglich. In Bayern etwa darf die Gastronomie erst danach wieder eröffnen – und auch nur im Freiluftbereich. In anderen Bundesländern ist Indoor-Bewirtung zugelassen – aber mit Abstandsregeln. Public Viewing ist aufgrund des Verbots von Großveranstaltungen bundesweit bis 31. August noch keine Option, und an den ersten beiden Wochenenden wird die Sky-Konferenz auch frei empfangbar sein.
Einzige Ungewissheit, was das Fanverhalten betrifft: Wie könnte es in einigen Wochen sein, falls die Infektionszahlen sinken und alle Corona noch lockerer sehen und die Liga in die entscheidende Phase geht?
Aber dann wird sich die Gewerkschaft der Polizei sicher noch einmal melden.