Charlotte – Das mit der Werbung haben sie mal wieder außerordentlich klug gemacht. Noch bevor eine Sekunde dieser XXL-Dokumentation gelaufen war, erfuhr Amerika von der Sorgen des Michael Jordan, die Menschheit könne ihn, MJ, nach diesen zehn Episoden für einen Tyrannen halten. Ihn? Michael? Den die Welt beim Vornamen kennt, obwohl den Millionen tragen? Der Milliardär mit Sportschuhen und Basketball geworden ist? Der – zumindest in sportlicher Hinsicht – so groß wie Muhammad Ali ist?
Also setzte sich Amerika vor den Fernseher und sah zu, was ohnehin klar war, weil ja gerade kein Sport läuft, auch keine Pferderennen. Wegen der Corona-Pandemie haben die Entwickler die Doku zwei Monate früher als geplant gestartet. Die zehnte und letzte Episode hat Regisseur Jason Hehir erst vorige Woche fertig geschnitten. 6,1 Millionen Zuschauer der ersten beiden Folgen bescherten TV-Sender ESPN einen Rekord für Filme dieser Art. Im Rest der Welt läuft „The Last Dance“ auf dem Streaming-Portal Netflix, die letzten beiden Folgen am kommenden Montag.
So viel sei verraten: Jordan war ein Tyrann. Er hat seine Mitspieler beschimpft, manchmal, er erzählt selbst davon, schlug er sie im Training. Aber das hat ja jeder gewusst, der mit oder gegen ihn gespielt hat – oder ihn in den 1980er und 1990ern verfolgt hat. Diese Dokumentation ist also keine Enthüllungsgeschichte, obwohl Regisseur Hehir als Erster 500 Stunden exklusives Filmmaterial aus der Saison 1997/98, Jordans letzter, verwenden durfte.
Die NBA schickte damals ein Kamerateam zu den Bulls, das alles und überall aufnehmen durfte. Jordans einzige Prämisse: Er entscheidet, ob und wann das Filmchen erscheint. Manche mögen es für einen Zufall gehalten haben, dass der Superstar am Tag zustimmte, als LeBron James 2016 seine Meisterschaft mit Cleveland feierte. Der Moment, der viele Basketballfans zweifeln ließ, ob nicht dieser LeBron, den die Welt eigentlich auch nur beim ersten Namen nennt, Michael Jordan als Bester aller Zeiten abgelöst habe.
Womit wir nun am Herzen der Doku operieren. Sie trägt den Titel „The Last Dance“ weil sich Trainer Phil Jackson im Sommer 1997 diesen Arbeitstitel für sein letztes Jahr in Chicago ausgedacht hatte. Die Serie kommt oberflächlich als Rückblick auf den letzten Walzer (ja, hier tanzt der älteste Meister der NBA-Geschichte mit 32 Jahren Altersschnitt) daher. In Wirklichkeit geht es vor allem um Jordan. Und da Basketball ein Teamsport ist, in dem sehr oft die Mannschaft mit dem besten Spieler gewinnt, erzählen die zehn Episoden vom größten Gewinner seines Zeitalters, vom Süchtling nach Siegen. Oder besser: Jordan erzählt sie.
Ihn sättigten keine Rekorde auf dem Parkett. Er warf mit seinen Leibwächtern Silbermünzen um die Wette. Kurz vor Spielbeginn. Er golfte an freien Tagen mit seinen Gegnern – während der NBA-Finalspiele. Er knüpfte seinen Teamkollegen Tausende Dollar beim Kartenspielen im Flugzeug ab. Wenn er verlor, spielte man so lange, bis er gewann. Seine Vorliebe fürs Glücksspiel, für Black Jack, erklärt er mit einem inneren Verlangen nach Erfolg, das ihn dazugebracht habe, seine Mitspieler hart anzupacken, und nicht – wie seine Kritiker behaupten – mit Spielsucht.
Regisseur Hehir hat über 100 Sportler, Angehörige, Journalisten, zwei Präsidenten (Obama und Clinton) interviewt, Material, das eigentlich in weitere zehn Folgen gehört. Die Doku hat viele Helden, sie führt sogar in Apartments, in denen sich eine nackte Carmen Electra, mit der sich Dennis Rodman, exzentrischer Rebound-König der Bulls, seine Zeit vertrieb, hinter einem Sofa vor Jordan versteckt hatte.
Doch all diese Fäden, in zig Rückblenden zusammengewebt, führen zu Jordan. Er hat getan, was er eigentlich nie tut: Er hat gesprochen. Stundenlang. An drei Drehtagen. Er hat eine Zigarre und sein eigenes Getränk mitbringen lassen. Das Glas sieht aus wie mit Whisky gefüllt, aber keiner weiß das genau. Keiner hat sich zu fragen getraut. Auch wenn Michael Jordan so manche Geschichte anders erzählt, als sie sich wirklich zugetragen hat, obwohl er auch 22 Jahre später auf seine Feinde (den toten Manager Jerry Krause oder NBA-Legende Isiah Thomas) verbal eintritt, gibt er etwas preis, das die Welt dann doch nicht von diesem Basketballgenie mit Teflonschicht kannte: sein Innenleben. Für den Erfolg ist er zum Tyrannen geworden. In Folge sieben weint er deswegen. Dann schaltete die Kamera aus.