Berlin/München – Barsinghausen. Das ist nicht der Ku’damm, sondern ungefähr das Gegenteil davon. In Niedersachsen, irgendwo im Nirgendwo, und nicht am Puls der Hauptstadt wie „Big city Club“ Hertha BSC, hat Union Berlin sich einquartiert. Rund 300 Kilometer Wegstrecke haben Profis und Betreuer dafür in Kauf genommen. Sie haben das gerne gemacht. In der Sportschule und nicht in einem Luxushotel sollte der Geist entstehen, den man für den Bundesliga-Neuanfang an diesem Wochenende braucht. Und für ein Spiel gegen den FC Bayern sowieso.
Der Tabellenführer reist also an, irgendjemanden musste es an diesem „ersten“ Spieltag ja erwischen. Der Elfte stellt sich in diesem ersten von optimalerweise neun Bundesliga-Geisterspielen auf „Phasen ein, in denen wir dem Ball auch mal hinterherlaufen müssen“, sagte Mittelfeldspieler Grischa Prömel. Deshalb ist es nur logisch, „dass wir lieber vor vollem Haus gespielt hätten“. Das Stadion an der Alten Försterei ist Kult, Ruhe herrscht dort eigentlich nie, nicht mal in der Halbzeit. Wohl auch deshalb hat Präsident Dirk Zingler vor der corona-bedingten Unterbrechung bis zuletzt an einem Heimspiel gegen die Bayern festgehalten, das vor rund 22 000 Zuschauern stattfinden sollte.
Zingler hat seine Meinung inzwischen geändert, aber die Worte des Clubbosses haben Mitte März doch lange nachgehallt. Während in der Woche, in der die Corona-Pandemie alles veränderte, im Rest der Republik – und sogar dem Rest der Bundesliga-Clubs – Einsicht herrschte, dass Großveranstaltungen das letzte sind, was man jetzt noch braucht, war Zingler vorgeprescht. „Am Ende entscheidet nicht der Bund, sondern das Gesundheitsamt“, sagte der 55-Jährige und befand: „Ich gehe davon aus, dass kein Grund dafür besteht, das Spiel ohne Zuschauer stattfinden zu lassen“. Heute weiß man, dass sogar Grund dafür bestand, die Bundesliga komplett pausieren zu lassen, Föderalismus hin oder her. Zwei Monate später ist also auch Zingler froh, dass der Ball einfach wieder rollt. Von Zuschauern redet niemand mehr.
Bevor die Mannschaft von Trainer Urs Fischer sich Anfang der Woche aufmachte nach Barsinghausen, ergriff Zingler das Wort. „Deutlich“, berichtete er hinterher, habe er den Profis des Tabellenelften in einer Ansprache mitgeteilt, „dass uns ein riesengroßer Vertrauensvorschuss gegeben wurde“. Diesen müsse nun „jeder einzelne rechtfertigen“. Das Wort „dankbar“ fiel, als er über die Fortsetzung der Premierensaison seines Clubs sprach. Es wäre ja auch ein Jammer gewesen, wäre Union in dieser Spielzeit um neun Bundesliga-Partien gebracht worden.
Prömel sagt, Union sei „heiß“, das hört man dieser Tage ja von allen Clubs. Etwas differenzierter sieht Neven Subotic die ganze Sache. Der ehemalige Dortmunder, 31 Jahre alt, ist es in den vergangenen Wochen nicht leid geworden, Skepsis und Kritik auf zahlreichen Kanälen zu äußern. Das fehlende Mitspracherecht der Profis missfiel ihm, der Start kommt zudem seiner Meinung nach „zu früh“. Erst dieser Tage kündigte er an, im Falle von fehlenden Testkapazitäten in Deutschland „der Erste“ zu sein, „der sagt, das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren“. Er nutzte die Gelegenheit auch gleich, seine Kollegen in die Pflicht zu nehmen: „Ich wünsche mir, dass mehr Fußballer ihr Verhalten hinterfragen und sich ihrer Rolle in der Zivilgesellschaft bewusst werden.“
Das nahm sich Teamkollege Felix Kroos zu Herzen und schlug ebenfalls kritische Töne an: „Es ging nicht ihm oder es geht den Spielern nicht darum, eine Entscheidung zu treffen, sondern einfach gehört zu werden, um im Prozess der Entscheidungsfindung ein Wort mitreden zu können“, sagte Kroos. Im Endeffekt seien es die Spieler, die sich einem Gesundheitsrisiko aussetzen: „Die Leute in der DFL holen sich keinen Kreuzbandriss oder brechen sich kein Bein“, sagte der jüngere Bruder von Weltmeister Toni Kroos.
Fehlen wird wird am Sonntag Urs Fischer. Er war am Mittwoch aus familiären Gründen aus Barsinghausen abgereist. Sein Schwiegervater ist inzwischen verstorben. Weil er nicht in Quarantäne war, wird Fischer Union gegen die Bayern nicht coachen. Er wird von seinem Assistenten Markus Hoffmann vertreten. HANNA RAIF