München – Die Tschechoslowakei steht vor einem Dilemma. Mit Martina Navratilova besitzt das kommunistische Land unter sowjetischer Führung Ende der 60er-Jahre eines der größten Tennistalente aller Zeiten. Damit der Teenager jedoch der westlichen Zivilisation ihre Überlegenheit demonstrieren kann, muss das Wunderkind um die Welt reisen. Damit ist der Kampf der Partei-Offiziere um ihre filzballschlagende Stalin-Botschafterin verloren.
Schon bei ihrem ersten Besuch in den USA, 1973, taucht Navratilova emotional in das fremde Land ein. Anfangs etwas zu tief. Burger und Milchshakes setzen sich auf die Hüften der jungen Sportlerin. Dank erlernter Disziplin und Saunagängen im Trainingsanzug kommt sie wieder in Form, stürmt an die Spitze der Tennis-Welt und wählt die USA als neues Zuhause. Mit 18 stellt sie einen Antrag auf politisches Asyl, der fünf Jahre lang bearbeitet wird. Ihre Wahlheimat empfängt sie nicht mit offenen Armen. Plötzlich ist sie die politische Athletin, die sie nie sein wollte. Als Gegenpart zu „America’s Sweetheart“ Chris Evert spielt Navratilova die kaltherzige Tennis-Maschine. Betritt die Linkshänderin mit den starken Volleys den Platz wird sie ausgebuht. 1978 der erste Wimbledon-Triumph – im Finale gegen Evert. Sie dominiert die Konkurrenz in den nächsten Jahren. Nur die Liebe der Fans bleibt ihr weiter verwehrt. In der Tschechoslowakei genauso wie in den USA.
1981 bekennt sich Navratilova als eine der ersten Sportlerinnen zu ihrer Homosexualität. Ihre Beziehung zur berühmten Schriftstellerin Rita Mae Brown bewegt das prüde Amerika. Mehr denn je erscheint die Einwanderin von der anderen Seite des eisernen Vorhang vielen suspekt. Ihr Mut und Standhaftigkeit, gepaart mit sportlicher Perfektion, rücken sie Richtung gesellschaftlicher Mitte. Navratilova wird Teil der US-Unterhaltungsindustrie. Sie spielt in der TV-Serie „Hart, aber herzlich“ sich selbst.
Dennoch lechzt sie nicht nach dem schnellen Applaus, bleibt unbequem. Als Basketball-Superstar Magic Johnson seine HIV-Erkrankung mit dem Statement, er habe mit Hunderten Frauen geschlafen, verbindet, kontert sie: „Eine Frau würde man jetzt Hure nennen und die Sponsoren würden sie fallenlassen wie eine heiße Kartoffel.“
Auf dem Tennisplatz läuft ihr Steffi Graf Ende der 80er den Rang ab. Gleichwohl schreibt die gebürtige Tschechoslowakin Sportgeschichte: Sie gewinnt 18 Grand-Slam-Titel im Einzel, 31 im Doppel und zehn im Mixed – den letzten im 2006 im Alter von 49 Jahren. Sie ist die einzige Spielerin, die mehr als 200 Wochen im Einzel und Doppel an der Spitze steht.
Auch wenn sie mit 62 Jahren heute nicht mehr so präzise den Ball über das Netz spielt, eine andere Qualität ist geblieben: Sie, die mit dem russischem Ex-Model Julia Lemigova seit 2014 verheiratet ist, kämpft unerschrocken für die Gleichstellung von Männern und Frauen und gegen sexuelle Diskriminierung. So erklärt sie seit Jahren öffentlich, dass Ex-Spielerin Margaret Court als Namensgeberin eines Platzes bei den Australian Open wegen homophober Tiraden nicht tragbar sei. Ihren Protest untermauerte Navratilova mit Plakaten, was australische Tennis-Funktionäre erzürnte.
Ihre Liebe zum Showbusiness hat sich Navratilova bewahrt. Seit September 2019 ist sie in der Netflix-Serie „The Politician“ zu sehen. Als Reitlehrerin „Brigitte“ steckt die 62-Jährige im Spiel um Macht, Korruption und Vorurteilen in der US-Politik. Zwei Staffeln gibt es bereits.
Und wenn den Drehbuchautoren mal die Ideen ausgehen, sollten sie bei „Brigitte“ alias Martina Navratilova nachfragen. Wenn jemand gute Geschichten liefern kann, dann die Frau, die sich nie scheute, den Finger in offene Wunden zu legen.