München – So viel Zeit wie aktuell hatte Dominique Gisin noch nie. Ihre Vorträge wurden alle abgesagt, da hat sie sich kurzerhand für den Master in Physik an der ETH Zürich angemeldet. Die letzten zwei Wochen musste die ehemalige Skirennfahrerin büffeln. Eine Prüfung hat sie schon absolviert, die nächsten folgen im August.
„Das Spiel mit den Kräften hat mich schon immer fasziniert“, sagt die Schweizerin. Bereits nach ihrem Karriereende 2015 schrieb sie sich für Physik in Zürich ein und schloss mit dem Bachelor ab. Direkt im Anschluss an die aktive Karriere als Profisportlerin ein hochkomplexes Fach an einer international renommierten Hochschule studieren – ein Schritt, der Gisin im Anschluss nicht immer leicht fiel. „Ich war ausgebrannt und bin dann trotzdem sofort in das Studium gestartet, was nicht weniger intensiv war. Das hat mich an die Grenzen gebracht, es war aber gleichzeitig auch total faszinierend.“ Einen großen Teil der Faszination für die Gesetzmäßigkeiten der Natur erhielt Gisin von Pater Leonhard. Als Schülerin der Stiftsschule in Engelberg, war sie begeistert, wie anschaulich die Lehrperson komplizierte Sachverhalte erklären konnte. Im Rahmen der Dokumentation „Dominique“ besuchte die 35-Jährige ihre alte Schule noch mal. Im Arbeitsraum von Pater Leonhard hängen heute zwei Poster – eins von Albert Einstein, eins von Gisin.
2014 gewann die Schweizerin Gold in der Abfahrt bei den Olympischen Spielen in Sotschi. Der Höhepunkt ihrer Karriere. Eine Karriere, die aufgrund zahlreicher schwerwiegender Verletzungen öfters „am seidenen Faden hing“. Trotzdem war ihr immer klar, welch ein Privileg es ist, dass sie ihren Traum als erfolgreiche Skifahrerin leben darf. Und dass sie unbedingt etwas zurückgeben möchte.
Seit ihrem Karriereende ist Gisin Botschafterin des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK). Das Hilfswerk agiert nicht nur in der Schweiz, sondern setzt sich auch international für Menschen in Not ein und initiiert Projekte. Berühmt werden war nie das Ziel von Gisin. Aber wenn sie durch ihre Strahlkraft als Olympionikin Aufmerksamkeit auf ebensolche Projekte richten kann, freut sie das.
Von der ersten Reise mit dem SRK nach Bolivien war die dann aber „total schockiert“. Die Menschen dort lebten teils in Lehmhütten. Nach einer Woche war die ganze Delegation krank, Gisin selbst hatte tagelang 39 Grad Fieber. Die ärztliche Infrastruktur? Mehr als mangelhaft: „An einer Magenverstimmung sterben? Das klingt für uns vielleicht lächerlich. Dort ist es Realität.“
Den Fokus auf Missstände lenken, materielle Dinge besorgen und Wissen vermitteln ist das eine – „die Strategie für die Zukunft muss aus der Gemeinde selbst kommen“, sagt Gisin. Die Menschen vor Ort sind für sie das Wertvolle. Sie erinnert sich an einen Moment während ihres Besuchs in Kirgisistan: Das ganze Dorf packte mit an und baute einen Kanal, der das nächste Hochwasser umleitet. So werden die Hütten der Dorfbewohner nicht mehr überschwemmt. Die Projekte sollen mittelfristig selbsttragend sein – aber auch nach den Reisen mit dem SRK bleibt Gisin mit den Gemeinden in engem Kontakt und verfolgt die Entwicklungen.
Im vergangenen Sommer flog sie nach Togo und besuchte unter anderem eine Station zum Blutabnehmen. Ein Journalist fragte, wie viel von dem Blut weggeschmissen werden muss, weil es nicht gut ist. „Zehn Prozent“ , sagte die Arzthelferin. „Wegen Malaria?“, fragte der Journalist. „Dann müssten wir 80 Prozent wegwerfen“, sagte die Helferin.
Dominique Gisin hofft, dass der Fokus wieder auf das Wesentliche zurückkehrt. Viele Menschen würden zu schnell vergessen, welche Privilegien sie haben. Viele Probleme, die vor der Corona-Krise hochstilisiert wurden, „spielen plötzlich keine Rolle mehr“. Togo soll nicht die letzte Reise gewesen sein: „Die Pandemie ist etwas Neues für uns, Menschen in ärmeren Ländern sind jeden Tag mit tödlichen Krankheiten konfrontiert.“