Raketen statt Beine

von Redaktion

Rad-Superstar Eddy Merckx, wegen seines Erfolgshungers einst Kannibale genannt, wird 75

VON KLAUS ANGERMANN

München – EM – diese Initialen haben mehr als 15 Jahre die Siegerlisten des Radsports geprägt. Sie stehen für die 525 Triumphe des Belgiers Eddy Merckx in den Jahren zwischen 1961 und 1978. Ihre Aufzählung stellt jeden Beipackzettel in den Schatten. Er war der Diktator einer Radsportepoche, die man Merckxismus nannte.

Viermal gewann der am 17. Juni 1945 geborene Sohn eines Gemüsehändler-Ehepaares das Trikot des Straßen-Weltmeisters: 1964 als Amateur, 1967, 71, 74 bei den Profis. In den Annalen von Tour de France und Giro d’ Italia steht der Name Merckx je fünfmal; dazu in den Goldenen Büchern der Vuelta, von Paris-Nizza, Tour de Suisse, Dauphiné Libéré, Sardinien und Belgienrundfahrt.

Dass man den Siegeshungrigen den „Kannibalen“ nannte, dazu haben auch seine 32 Erfolge in den berühmten Eintagesrennen beigetragen. Mehrfach hat er sie „verschlungen“: So zum Beispiel Mailand-San Remo (7x), Lüttich-Bastogne- Lüttich (5x), Paris-Roubaix (3x), Fleche-Wallone (3x), Flandern-Rundfahrt (2), Lombardei (2x). Unangetastet, nach 45 Jahren noch immer, ist sein Tour-de-France-Rekord von 34 Etappensiegen. Einer für die Ewigkeit? Das hatte Lucien Acou, Merckx’ Schwiegervater, einst für zumindest 50 Jahre prophezeit, als Eddy am 25. Oktober 1972 in Mexiko-City den Stunden-Weltrekord auf 49,431 km schraubte.

Die Marke hielt zwar nur zwölf Jahre; aber sie war eine der beeindruckendsten Leistungen von EM, dem „Rennfahrer mit den drei Beinen“. Oder wie der französische Fahrer Cyrille Guimard einmal sagte: „Das sind keine Beine – das sind Raketen“.

Als Chronist für das ZDF durfte ich diese Raketenbeine zwölf Jahre lang erleben. Auch jenen Merckx-Höhepunkt, Ende Oktober 1972 in Mexiko, nach 127 Renntagen und 50 Siegen. Als der Belgier in idealer Höhe (2240 m) auf dem genialen 333-Meter-Holzoval des Münsteraner Architekten Herbert Schürmann den Rekord der Rekorde angriff. Vormittags, kurz vor neun, bei für Mexikos Metropole besten Luft – Verhältnissen. 3000 Augenzeugen bildeten die Kulisse; davon etwa 100 aus Europa. Die Elite der Radsport-Journalisten, zudem Belgiens Ex-König Leopold und Merckx-Vorgänger Jacques Anquetil gaben sich die Ehre.

Merckx hatte nicht die Mailänder Vigorelli-Rekordbahn gewählt, sondern Mexiko-City, wegen des geringeren Luftwiderstandes. Die Höhenbedingungen, u. a. mit 7 % weniger (!) Sauerstoff, hatte er heimlich in seiner heimatlichen Garage simuliert, das Rekordrad Italiens Maestro Ernesto Colnago, gebaut – ein „Juweltje“ (Juwel): nur 5,8 Kilo schwer, dünnes Stahlrohr, Naben aus Titan, 90-Gramm-Reifen vorn, 110 Gramm hinten. Gefüllt mit Heliumgas, leichter als Luft. Dazu ein ausgetüftelter Zeitplan, den René Jacobs, ein belgischer Radsportweiser und Statistiker, überwachte; die Einhaltung wurde mit einer Glocke signalisiert, sodass Merckx immer wusste, ob er auf Kurs ist. Nach 60 Minuten, in denen er bei jeder Pedalumdrehung 9,73 Meter zurücklegte, hatte der Belgier, mit 49,431 Kilometern endlich auch den Stunden-Weltrekord erobert; dabei aber so gelitten, dass er danach schwor: „So etwas mache ich nie wieder.“ Er hielt Wort.

Wie er es immer tat. Auch am 1. Mai 1975, beim Frankfurter Rad-Feiertag. Da hatte Eddy zugesagt, vor dem Start mit den Fernsehleuten auf die höchste Plattform des Henninger Turms zu fahren – für einen Gag: Wie der Radsport-König auf sein (Rennfahrer)Volk herabschaut . . .

Alles klappte perfekt: Merckx an der Brüstung, blickt nach unten; doch das Kommando „Film ab“ kann der Redakteur nicht geben. Denn 100 Meter tiefer ist das Teleobjektiv zwar nach oben gerichtet, doch der Kameramann nicht zur Stelle. Nach fünf endlosen Minuten im kalten Wind – der Weltmeister wollte zum Start, der Reporter vom Turm springen – wurden wir schließlich „unten“ entdeckt. Das Fernsehen hatte seine Traum-Einstellung, Merckx aber ein leicht mürrisches Gesicht.

Ein anderer historischer Tag in dieser beispiellosen Karriere war der 15. Juli 1969. Die 17. Etappe der Tour de France von Luchon nach Mourenx. 214,5 km.

Merckx, mit acht Minuten Vorsprung im Gelben Trikot, führt die kleine Spitzengruppe zum Tourmalet, dem dritten Pyrenäengipfel dieses Tages. Er attackiert, gewinnt solo die Bergwertung und startet eine rasende Abfahrt. „Die Flucht des Adlers“, wie Jacques Goddet, der Tourdirektor, den folgenden 140 km (!) langen Alleingang schwärmerisch beschrieb.

Merckx fuhr wie entfesselt. Sein sportlicher Leiter „Lomme“ Driessens schrie ihm zu: „Eddy, stopp er mee!“ Eddy, hör auf! Doch der raste weiter; forderte, als der Kraftakt in schwüler Hitze Spuren zeigte, einen Schluck Champagner in seine Trinkflasche. Driessens, der Schlaue, gab Eddy das „Doping“, überlistete ihn aber mit Zuckerwasser. Tour-Novize Merckx gewann diesen historisch gewordenen Solo-Ritt (hier entstand der Beiname Kannibale) mit acht Minuten Vorsprung. Vier Tage später feierte er in Paris seinen ersten Tour-de-France-Triumph. Sein Vorsprung: 16 Minuten.

Er wirkte an diesem 20. Juli 1969 wie der Prolog zur Mondlandung. Diese Tat vollbrachten – ein paar Stunden nach Merckx’ Ehrenrunde – als erste Menschen die beiden US-Astronauten Armstrong und Aldrin. Die Amerikaner wie der Belgier eröffneten damals neue Epochen. „Sportlich gesehen war er ein Killer. Er wollte alles gewinnen, dafür wurde er geboren. Eddy siegte auf allen Terrains, am Berg, im Sprint, gegen die Uhr. Es war der Höhepunkt dessen, was im Radsport erreicht wurde“, sagte Frankreichs Radsport-Idol Bernard Hinault.

An das „Merckxissimo“ erinnern wir uns nun zu Eddys 75. Geburtstag. Zugleich an die Antwort Jacques Anquetils, des fünfmaligen TdF-Siegers, auf die Frage, was einen perfekten Champion ergibt: „Man nehme die Beine von Merckx, den Kopf von Merckx, die Muskeln von Merckx, das Herz von Merckx und die Siegeswut von Merckx.“

EM besaß eben alles.

Dass auf die große Karriere auch Schatten fielen, will ich nicht verschweigen. 1969 wurde er wegen Dopings vom Giro ausgeschlossen, die Umstände blieben ungeklärt, die Sperre wurde bald darauf wieder aufgehoben. Es folgten noch zwei positive Tests in den 70er Jahren. Das Vermächtnis von Merckx konnte damit aber letztlich nicht geschmälert werden.

Wie schrieb doch dieser Tage die „Nordwest-Zeitung“: „Menschen der Vergangenheit werden niemals einer Hypermoral gerecht werden . . . Sie müssen an ihrer eigenen Zeit gemessen werden. Das gilt je mehr, je länger diese zurückliegt.“

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