München – Es ist manchmal ja nur eine Frage des richtigen Blickwinkels, auch schwierigen Zeiten etwas Gutes abzugewinnen. Theresa und Amelie Stoll etwa bleibt in diesem Sommer wenigstens ihr altes Dilemma erspart. Die Olympischen Spiele in Tokio sind vertagt. Und so müssen sich die beiden Münchner Judo-Zwillinge wenigstens erst einmal nicht mit dem Umstand befassen, dass in Japan nur eine, nämlich Theresa, unter den fünf Ringen am Start sein wird.
Wobei sich die beiden über die fiese Härte ihrer Sportart, die einem Verband nur einen Starter je Gewichtsklasse erlaubt, ohnehin nur noch wenige Gedanken machen. „Klar ist das nicht schön, aber wir haben es akzeptiert“, sagte Amelie, „und wer weiß, vielleicht bin beim nächsten Mal ja ich an der Reihe.“
Aber erst einmal muss der Sport ja überhaupt wieder in die Gänge kommen. Wann das sein wird, ist kaum abzusehen. Vorläufig stehen Ende August die nächsten Wettkämpfe im Kalender. Ob sie dort bleiben, da sind nicht nur die beiden 24-jährigen Ausnahmekämpferinnen skeptisch. Quarantänekämpfe wie gerade neben den Teamsportarten auch von den Tischtennisspielern praktiziert, gelten als unrealistisch.
Zum Problem muss das zumindest für Theresa und Amelie Stoll nicht werden. Denn in einer Zeit, in der der Sport stillstand, hatten sie sich noch gegenseitig. Weil sich die beiden unweit des Großhaderner Judozentrums eine Wohnung teilen, konnten sie auch in Zeiten strengsten Kontaktverbots zusammen üben. Nicht unbedingt was kämpferische Feinheiten angeht, aber zumindest an Kraft und Fitness konnten die beiden auch im heimischen Wohnzimmer feilen. Theresa ahnt: „Ich glaube, dass wir in diesen Bereichen Fortschritte gemacht haben.“
Es ist die Besonderheit, dass sich die beiden besten deutschen Kämpferinnen der Klasse bis 57 kg trotz aller sportlichen Rivalität ihr spezielles Verhältnis bewahrt haben. Ein Verhältnis, dessen Qualität man auch im Olympia-Magazin „2020“ ablesen konnte, in dem sich die beiden gegenseitig ziemlich innige Briefe schrieben.
Die beiden trainieren zusammen, inzwischen auch wieder halbwegs regulär bei Heimtrainer Lorenz Trautmann. Und stacheln sich dabei in den Einheiten wie auch den Übungswettkämpfen gegenseitig an. Theresa offenbar ein bisschen mehr, zumindest hat die um wenige Minuten jüngere, aber etwas größere Schwester die Vorteile momentan auf ihrer Seite. Ihre vier deutschen Meistertitel konnte sie auch deshalb schon mit zweimal EM-Silber garnieren. So ist es auch in den direkten Duellen. „Wenn wir zuletzt gegeneinander gekämpft haben“, sagte Amelie, „dann hat sie meistens gewonnen.“ Nicht immer reisen beide mit einem Lächeln nach Hause, so wie 2017 in Den Haag, als die Schwestern erstmals beide bei einem Grand Prix auf dem Podium standen.
Doch auch sportlicher Frust kann das Verhältnis nicht trüben. Beide haben ihre Modalitäten gefunden, wie man sich auch in schwierigen Momenten helfen kann. Ein paar tröstende Worte, eine Umarmung oder auch ein Stück Schokolade. Wirkliche Krisenmomente zwischen den beiden sind rar. Wahrscheinlich auch weil sich die beiden Studentinnen (Theresa studiert Medizin, Amelie Management) als Persönlichkeiten ergänzen. Theresa ist der extrovertiertere Mensch, Amelie eher ruhig. Beide sind Ordnungsliebhaber. Gute Voraussetzungen für das Leben in der gemeinsamen Wohnung.
Und wer weiß, vielleicht ist ja irgendwann auch einmal ein Lösung für das alte Dilemma der beiden in Sicht und der Judo-Dachverband lässt eine zweite Kämpferin für die Olympischen Spiele zu. „Das wäre natürlich ein Traum“, sagte Theresa. Und träumen muss immer erlaubt sein.