Vom Kellner zum Unterschiedstrainer

von Redaktion

Eine neu erschienene Biografie präsentiert Thomas Tuchel auch als einen Mann voller Widersprüche

VON GÜNTER KLEIN

München – Thomas Tuchel ist bei Twitter. Gelegentlich zumindest. Ein Wunder, dass er die Anmeldedaten nicht vergisst, so selten, wie er seinen Account nutzt. Er legte ihn im Mai 2017 an, als er seine Trennung von Borussia Dortmund verkündete. In den drei Jahren seitdem hat er zehn kurze Beiträge geschrieben (also ein halbes Tagespensum von Donald Trump). Tuchels letzter Eintrag lautete: „Weil mich aktuell immer mehr Leute darauf ansprechen  . . . Nein, ich habe das Buch ,Thomas Tuchel – Die Biografie“ weder in Auftrag gegeben noch daran mitgearbeitet. Ebenso wenig ist es von mir autorisiert.“ Typisch Tuchel, auf Distanz zu gehen – ohne zu wissen, ob Distanz nötig ist. Es klang nach vorauseilendem Misstrauen.

Tatsächlich muss man unterscheiden zwischen der Autobiografie, bei der der Titelheld selbst als der Erzähler in Erscheinung tritt, oder der Biografie, die über einen geschrieben wird – oft ohne dass der Beschriebene Einfluss nehmen könnte. Es gibt viele Bücher über die Stars des Sports, in vielen Fällen hat der Autor keinen Zugang, bedient sich aus den Archiven. Das ist hier aber nicht der Fall. Erstens geht es nicht um den schnellen Euro, denn der Verlag „Die Werkstatt“ ist bekannt für sein seriöses Fußballprogramm, das sich an ein anspruchsvolles Publikum wendet. Und die beiden Autoren, Daniel Meuren und Tobias Schächter, Redakteure bei der „FAZ“ und den „Badischen Neuen Nachrichten“, haben Thomas Tuchel in dessen prägender Mainzer Zeit eng begleitet.

Später, als Tuchel aufstieg zu Borussia Dortmund und Paris Saint Germain, war es auch für sie nicht mehr möglich, so an ihn heranzukommen wie in den berühmten Mainzer Dienstagsrunden, in denen der junge Trainer sich mit den örtlichen Journalisten austauschte. Doch Meuren und Schächter erheben auch gar keinen anderen Anspruch, als Tuchel aus den Jahren auf seiner ersten Bundesligastation und der Zeit davor zu erklären. Das tun sie exzellent. Und mit Hilfe von vielen, die Tuchels Weg begleitet haben. Wie Christian Heidel, dem langjährigen Mainzer Manager, mit Julian Nagelsmann, den Tuchel auf den Trainerweg führte, mit Förderern von Tuchel in der Jugendabteilung des VfB Stuttgart, auch mit Mitstreitern, die ihn noch immer wertschätzen – obwohl er den Kontakt zu ihnen nicht mehr pflegt.

Meuren und Schächter liefern ein differenziertes Bild eines Trainers, der öfter zu erkennen gab, dass er lieber zehn Jahre länger Spieler gewesen wäre. Wegen eines Knorpelschadens musste er mit 24 aufhören. Er war U18-Nationalspieler gewesen, doch bei den Stuttgarter Kickers in der 2. Liga reichte es nur zu acht Spielen als Profi. Tuchel, 1,90 m groß, war Außenverteidiger. „Tuchel, was soll ich mit Ihnen anfangen?“, fragte Rolf Schafstall, einer jener Trainer alter Schule (weiterhin Lorenz Günther Köstner und Günter Sebert), die ihn eher traumatisierten. Ein Förderer dagegen: Ralf Rangnick in Ulm.

Nach dem unfreiwilligen Ende als Spieler kellnerte Tuchel in einer Ulmer Bar, er fuhr einen Audi mit 600 000 km auf dem Tacho, Geld für ein neues Auto hatte er nicht. Trotzdem fand er nach dieser Sinnkrise zurück in den Fußball. Als Jugendtrainer beim VfB Stuttgart (Einstieg: Assistent bei der U15), Leiter des Nachwuchsleistungszentrums in Augsburg, dann Coach der Jugend beim FSV Mainz, wo er sich schon erste große Duelle mit Christian Streich und den Freiburger A-Junioren lieferte. Er wollte Streich sogar als seinen Co-Trainer holen, als ihm die Chefstelle in Mainz angeboten wurde.

Die Autoren der Tuchel-Biografie beschreiben seine Trainingsmethoden, die für die Spieler fordernd, aber nutzbringend waren. Doch Tuchel sei kein reiner Taktik-Nerd, als den ihn viele sehen. Er kann Mannschaften für sich einnehmen, junge Spieler fanden ihn sogar richtig cool wegen seines Saab Cabriolets und seines Faibles für stylishe Klamotten und für Design. Überraschenderweise hatte er auch immer Leute um sich, die nicht der Vorstellung entsprechen, die sich die Leute von einem machen, der mit Tuchel gut zurecht kommt, diesem Menschen, der zwischen Hingabe und Jähzorn unterwegs ist.

Ein Mann voller Widersprüche: Mit „erratischem Auftreten“ beendete Tuchel 2014 sein Arbeitsverhältnis mit Mainz 05 – was ihn nicht davon abhielt, ein paar Wochen später mit zwei seiner ehemaligen Spieler bei sich zu Hause das WM-Finale zu gucken. In den letzten Jahren war er für die Medien kaum noch greifbar, ein Interview mit ihm gab es nur in einer Stil-Beilage seines Leib- und Magenblatts „Die Zeit“, doch er kickte während seines zweiten Sabbatjahres vergnügt in München in der Freizeitliga Royal Bavarian League.

Wird Thomas Tuchel mal Bayern-Trainer? Die Frage wabert ja schon länger durch den Fußball. Je nachdem, wie sich die Sache mit Paris entwickelt, könnte das wieder mal ein Thema werden. Sicher ist: Tuchel hat was drauf als Trainer, er gehört in die Kategorie „Unterschiedstrainer“ – so wie Pep Guardiola und Jürgen Klopp. Allerdings gibt es zu Klopp, dem er in Mainz und Dortmund nachfolgte und dem er distanziert gegenübersteht, halt eine gravierende Abweichung: Sein Vorgänger hielt Kontakte überall aufrecht, Tuchel bricht sie stillschweigend ab.

Bayern? Meuren und Schächter bringen eine andere Möglichkeit ins Spiel: Bilbao, der Basken-Club, oder Barcelona. Es sind noch Kapitel frei in Tuchels Leben.

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