München – Am vergangenen Wochenende war Andreas Rettig wieder sehr gefragt. Interview im „Kicker“, Interview im „Deutschlandfunk“. Wenn man die Abschriften von Gesprächen mit ihm liest, glaubt man seine Stimme zu hören. In der Musik würde man sie mit der Abweisung „Stakkato“ markieren. Er feuert die Töne ab, sie sind kurz, und sie sitzen. Kaum ein Äh, kaum ein Innehalten. Im Radio ging das gerade über 19 Minuten. Eine heutzutage sehr lange Strecke.
Worüber Andreas Rettig gesprochen hat: Über die Bundesliga, die Champions League, Financial Fair Play, Verteilung der Fernseherlöse, die großen Themen dieser Zeit. In welcher Funktion er über sie gesprochen hat: eigentlich in keiner. Er steht nirgendwo unter Vertrag, er ist frei und mittlerweile eine Marke, die sich selbst trägt. Ähnlich wie Reiner Calmund, bei dem er in Leverkusen Management gelernt hat – nur eben ist Rettig auf die seriöseren Themen spezialisiert. Und auf die sozialen.
Rettig, 57, ehemaliger Oberligaspieler, war bei einigen Clubs Manager: Leverkusen, SC Freiburg, 1. FC Köln, FC Augsburg, FC St. Pauli. Zwischen seine letzten beiden Stationen streute er ut zwei Jahre bei der Deutschen Fußball Liga, die Geschäftsführung bestand aus dem in der Corona-Krise bundesweit bekannt gewordenen Christian Seifert und ihm. „Ehemaliger DFL-Geschäftsführer“, das ist das Attribut, mit dem Rettig gerne vorgestellt wird – weil es seine Meinung interessant macht: Er kommt aus dem System, ist aber kritisch gegenüber dem System.
Momentan fordert er bei der Verteilung der Fernsehgelder mehr Solidarität ein, was er sagt, findet bei jenen Beifall, die sich in der Bundesliga einen ehrlicheren und nicht mehr so vorhersehbaren Wettbewerb wünschen. In Diskussionen geht er gut gerüstet. Wenn man ihm vorhält, dass die Verteilung des TV-Gelds in der Bundesliga im Verhältnis 2:1 geschehe und der schwächste Club immerhin die Hälfte dessen bekomme, was Branchenführer FC Bayern erlöst, hat Rettig sofort das Zusatzargument parat: „Das bezieht sich auf die nationalen Erlöse. Es gibt aber auch noch die Auslandsvermarktung. Und da haben wir zwischen Bayern und Paderborn den Faktor 3,8.“ Rettig hat immer eine Antwort.
Und klare Vereinsvorlieben – und Abneigungen. St. Pauli mit seinem alternativen Touch war ideal für ihn, er verließ den Verein nur, weil er wieder im Rheinland leben wollte. Sein Anti-Club ist der FC Bayern, mit dem streitet er auch beherzt.
In den DFL-Versammlungen monierten die Münchner schon mal den Einfluss von Rettigs St. Pauli, der nicht der eines sportlich mittelprächtigen Zweitligisten entspreche („Emotionales und populistisches Spektakel von Rettig“), im Gegenzug hat Rettig immer eine fiese Bemerkung für die Bayern und ihre handelnden Personen parat. Im Mai schenkte er Sportdirektor Hasan Salihamidzic für die Ankündigung einer Transferoffensive ein („Falsches Signal“), über Karl-Heinz Rummenigge sprach er den viel zitierten Satz: „Er war ein erstklassiger Stürmer.“ Den Rest kann man sich denken – soll also heißen: Außer Fußball kann er nichts. Die Leistung des FC Bayern – acht Deutsche Meisterschaften in Folge – hält Rettig für nicht so bemerkenswert angesichts der finanziellen Verhältnisse.
Er würde sie ändern – allerdings auch nicht so einschneidend, wie viele Fans sich das wünschen. Auch Rettig ist gegen eine Aufteilung, die nicht das Leistungsbild berücksichtigt. Aber er regt an, nicht nur das sportliche Abschneiden und etwa die Nachwuchsarbeit in die Bewertung einfließen zu lassen, sondern auch gesellschaftliche Nachhaltigkeit zu einem Bewertungsfaktor zu machen: Wer auf sein Stadiondach Solarzellen pflanzt, auf seinen Parkplätzen Elektroladestationen errichtet, seine Merchandisingartikel fair produzieren lässt, eine Verwendung fürs Regenwasser findet und die Lebensmittel, die nach einem Spiel im Catering übrig bleiben, nicht einfach wegwirft, sondern etwa an eine Tafel weiterleitet, soll mehr bekommen.
Und ein bisschen steht er derzeit sogar auf Seiten der Bayern. Weil auch sie einen Nachteil erleben, wenn Manchester City tun kann, was es will und „wenn Scheichs und chinesische Konglomerate“ in Europa mitmischen. Dem sei nur Einhalt zu gebieten, wenn die Politik sich einmische.