von Redaktion

Mit dem Namen Rudi Dil können vermutlich nur eingefleischte Fußballfans etwas anfangen. Aber Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt bekommt immer noch für einen flüchtigen Moment Besuch von seinem schlechten Gewissen, wenn er an ihn denkt. Genauer gesagt an Ruud Gullit – so nennt sich der Holländer, seit er mit 16 Jahren seinen ersten Profivertrag unterschrieben hat. „Uli Hoeneß wollte ihn unbedingt zum FC Bayern holen“, erinnert sich der langjährige Mannschaftsarzt in unserer neuen Serie „Mythos Mull“. „Ich fürchte, ich habe ihm den Transfer vermasselt.“

Gullit galt als fußballerisches Genie, als Alleskönner. Um Europas Fußballer des Jahres 1987 aus Eindhoven nach München zu locken, legte sich Hoeneß mächtig ins Zeug, flog mit Franz Beckenbauer zu Gullit, der damals in Mailand wohnte. „Als wir morgens um halb zehn bei ihm in die Wohnung kamen, war noch niemand wach – außer der Butler. Der bat uns in den Salon, wir haben Kaffee getrunken. Schließlich war der Transfer klar, und er kam nach München zur Untersuchung bei Dr. Müller-Wohlfahrt“, so der frühere Bayern-Manager.

In Mulls Praxis lief zunächst alles nach Plan. Hoeneß hatte seinem Doc eingeschärft, dass er den niederländischen Star nicht aus den Augen lassen solle. „Uli wollte nichts dem Zufall überlassen, so lange der Transfer nicht unter Dach und Fach war. Gullit hat sogar bei ihm übernachtet“, erinnert sich Müller-Wohlfahrt. „In der Praxis haben wir dann auch wirklich gut aufgepasst. Aber dann hat mich Ruud gefragt, ob er sich mal mein Sprechzimmer ausborgen kann, um in Ruhe mit seiner Frau zu telefonieren.“ In Wahrheit hat Gullit parallel mit dem AC Mailand verhandelt und dann am nächsten Tag bei den Bayern abgesagt. „Das war wohl mein Fehler“, sagt Müller-Wohlfahrt, „Der Uli wusste nichts von dem Telefonat. Wir haben nie darüber gesprochen.“ Der geplatzte Transfer fuchst Hoeneß nach wie vor: „Warum Gullit abgesagt hat, weiß ich bis heute nicht.“

Dass der Doc damals in die Telefonfalle getappt ist, kann die Männerfreundschaft nicht trüben. „Ohne Uli wäre ich nie so lange bei den Bayern geblieben. Er hat mich auch nach dem Ärger mit Pep Guardiola zurückgeholt“, resümiert Müller-Wohfahrt. „Uli gegenüber verspüre ich große Dankbarkeit.“ Das gelte auch für Franz Beckenbauer: „Als ich bei Bayern angefangen habe, war der Franz eine Lichtgestalt – und ich ein Niemand. An meinem ersten oder zweiten Arbeitstag hat er zu mir gesagt: ‚Wir geben dir drei Jahre, um hier etwas aufzubauen. Mach’ was draus.’“ Dieser Vertrauensvorschuss sei für ihn Gold wert gewesen, sagt der Mediziner, der heute als bekanntester Sportarzt Europas gilt.

Aus vielen prominenten Patienten sind im Laufe der Jahre Freunde geworden. Mit Paul Breitner etwa war er öfters in den Bergen, Mull kickte bei Gaudi-Spielen auf der Alm mit, die der Weltmeister mit Freunden und Skilehrern veranstaltete. „Das Spielfeld lag am Hang, der Ball ist immer hinuntergerollt“, erinnert sich Breitner. „Das waren echte Highlights“, bestätigt Müller-Wohlfahrt.

Nach der WM 1982 gab’s dann die Revanche in Müller-Wohlfahrts Heimat Ostfriesland. „Wir haben dem Mull gesagt: Jetzt wollen wir aber auch mal wissen, wo du herkommst“, erinnert sich Breitner. „Dort haben wir dann einen ostfriesischen Dreikampf absolviert.“ Später ging’s auf See, die Wellen waren hoch, das Schiff schaukelte. „Ich habe das Gefühl gehabt, dass die Ostfriesen drauf warteten, dass uns Bayern schlecht wird. Aber den Gefallen haben wir ihnen nicht getan“, erzählt Breitner. Der Weltmeister ist ohnehin hart im Nehmen, das hat Müller-Wohlfahrt imponiert: „Der Paul konnte über seine Grenze gehen. In der Halbzeitpause saß er manchmal in der Kabine wie ein angeschlagener Boxer im Ring. Dann hat er die Ärmel hochgekrempelt, ist rausgegangen und hat Weltklasse gespielt. Daran sieht man, wie wichtig der Kopf im Fußball ist.“

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