München – Marcel Kittel war einst der weltbeste Radsprinter. Zwischen 2013 und 2017 gewann er 14 Etappen bei der Tour de France und ist damit deutscher Rekordhalter. Im vergangenen Jahr beendete er seine Karriere. Wir unterhielten uns mit dem 32-jährigen Thüringer über den schweren Sturz bei der Polen-Rundfahrt, der wieder einmal offenbarte, wie gefährlich der Radsport ist. Als ehemaliger Sprintspezialist hat Kittel dazu einiges zu sagen.
Marcel Kittel, haben Sie die Szenen von den Stürzen beim Massensprint in Kattowitz gesehen?
Ja, ich habe mir die Bilder wohl mindestens dreißig Mal angeschaut. Und ich muss sagen: Das ist ein absolutes Horrorszenario. Mein erster Gedanke war: Ich hoffe, es geht Fabio Jakobsen gut. Ich hoffe, er überlebt das. Die Kräfte, die da wirken, wenn man mit 80 km/h in eine Bande fährt und innerhalb von drei Metern stoppt, sind verheerend. Da kann alles passieren.
Können Sie als früherer Sprintspezialist erzählen, wie man so einen Sturz als Fahrer erlebt? Bekommt man überhaupt noch mit, was bei einem Sturz passiert. Oder reagiert man da nur noch reflexhaft?
Der ganze Sprint an sich besteht nur aus Reflex, ist fast frei von bewussten Entscheidungen. Das geht alles so schnell – da kann man sich nur noch auf die eigene Intuition verlassen. Eben sitzt man noch auf dem Rad, und ein paar Sekunden später hat man sich drei Mal gedreht, liegt auf dem Boden und versucht, sich erst einmal wieder zu sammeln und im Nachhinein zu verstehen, was passiert ist. Im ersten Moment weiß man das gar nicht. Natürlich war ich auch schon in Massenstürze verwickelt und lag im Rennfahrerhaufen ganz unten drunten. Einen so schweren Sturz wie der in Kattowitz hatte ich glücklicherweise nie. Ich kann sogar behaupten, dass ich mir in meiner Profikarriere nie einen Knochen gebrochen habe. Das ist schon etwas Besonderes in einer so gefährlichen Disziplin.
In Kattowitz ist Dylan Groenewegen als Auslöser des Sturzes disqualifiziert worden. Wie beurteilen Sie sein Fehlverhalten?
Man sieht in den TV-Aufzeichnungen zwei Dinge ganz klar. Zum einen, wie Groenewegen in der Mitte der Fahrbahn seinen Sprint eröffnet und dann fast ganz rechts an die Bande fährt. Und das in dem Moment, als Fabio Jakobsen die Lücke, die neben Groenewegen entsteht, nutzen möchte. Und zweitens ist zu erkennen, dass Groenewegen seinen Ellbogen raushält, als Jakobsen neben ihm ist. Das würde ich jetzt als Aktion an und für sich nicht als komplett wahnsinnig darstellen – aber es war in dem Moment eben das Tüpfelchen auf dem i. Auch weil Jakobsen nicht mehr bremsen konnte.
Wie ist es denn im Fahrerfeld: Gibt es da ungeschriebene Gesetze für den Sprint?
Ich glaube, dass die Regeln, die es inzwischen gibt, aus diesen ungeschriebenen Gesetzen entstanden sind. Und die besagen, dass man die Fahrlinie zu halten hat. Dass man Rücksicht nimmt auf die Kollegen. Im Sprint ist es grundsätzlich wichtig, dass man so agiert, dass es gar nicht zu so einer Situation kommt, wo man ein Risiko eingehen muss. Es gehört aber auch zur Natur des Sprints, aus diesem Chaos, das oft entsteht, mit Risiko noch etwas daraus zu machen. Man muss sich aber auch darauf verlassen können, dass sich die Konkurrenten an die Regeln halten. Und wenn das – wie im Fall Groenewegen – nicht gemacht wird, sieht man, was für ein dramatisches Sturzpotenzial dabei ist.
Brian Holm, Ihr früherer Sportlicher Leiter bei Quickstep, hat einmal gesagt: Sprinter sind zu 110 Prozent verrückt. Hat er recht?
Ja. Es ist einfach diese Mischung aus Wahnsinn, Beklopptsein und auch Faszination am Tempo, was den Sprint so besonders macht. Ich kann mich an Szenen erinnern, wo es wie im Actionfilm zuging. Du hast so krasse Wechsel innerhalb des Feldes, musst blitzschnell Entscheidungen treffen, gleichzeitig powerst du dich total aus. Das ist eine wahnsinnig spannende Mischung. Aber es birgt halt auch ein Riesengefahrenpotenzial. Das darf man als Fahrer nie vergessen. So aufregend das ist, so bekloppt man als Sprinter auch sein mag, man muss sich immer seine eigene Verantwortung bewusst machen und im Rennen zeigen. Und das ging in Kattowitz schief.
Ist es denn denkbar, dass die Corona-Pause diesen Sprint beeinflusste, weil nach den fast fünf Monaten ohne Rennen die Automatismen noch nicht so da sind wie normal?
Das sind alles erfahrene Rennfahrer. Die wissen alle, wie ein Sprint funktioniert, und das haben sie auch nicht vergessen. Ich glaube eher, dass die lange Rennpause die Rennfahrer stark aufgeheizt hat. Die wollen sich jetzt alle zeigen; die Rennen werden deswegen sehr hart gefahren. Alle standen wie die Rennpferde fünf Monate lang im Stall und konnten nicht zeigen, was sie draufhaben. Das spielt sicher mit, wenn jetzt in den Sprints noch mal ein Extrarisiko genommen wird. Das ist heuer eine besondere Situation, definitiv.
Beim Sprint in Kattowitz ging’s leicht bergab, deswegen wurde die hohe Geschwindigkeit von 80 km/h erreicht. Man fragt sich: Musste das sein?
Ich hoffe, dass die Frage jetzt ganz ernsthaft diskutiert wird. Man macht es sich auch zu einfach, dass man jetzt nur auf Groenewegen zeigt und sagt: Es ist nur seine Schuld. Denn die Rennfahrer arbeiten mit dem, was ihnen vorgesetzt wird. Die Rennstrecke, auf der der Unfall passierte, ist schon länger berühmt-berüchtigt. Da muss man sich schon überlegen, was zumutbar ist.
Was gibt es allgemein für Möglichkeiten, die Gefahren des Radsports zu reduzieren?
Für mich ist der Radsport zwar der tollste Sport, den man machen kann. Aber er ist definitiv gefährlich. Die letzten Jahre haben es immer wieder gezeigt. Es sind Radprofis tödlich verunglückt. Wir fahren eben auf keinen abgesicherten Rennenstrecken wie die Formel 1, sondern in öffentlichen Räumen. Man muss versuchen, den Sport so weit zu bändigen, dass man eine sichere Umgebung anbieten kann. Aber die Natur unseres Sports wird immer eine Gefahr mit sich bringen, die man nicht wegplanen oder wegorganisieren kann.
Der Radsport bleibt also ein Spiel mit Leib und Leben?
Unter dem Strich: ja. Auch wenn das Risiko deutlich verringert werden kann – es bleibt ein gefährlicher Sport.
Interview: Armin Gibis