Jörg Wontorra muss entzaubert werden.
Den Schwimmer Michael Groß einen Albatros zu nennen, ist nicht sein Copyright. Und er hat ihn mit seinem Ausruf „Flieg, Albatros, flieg“ bei den Olympischen Spielen 1984 auch nicht zur Goldmedaille getrieben.
Über die 200 Meter Schmetterling wurde Michael Groß nämlich Zweiter – und das als Weltjahresbester und Weltrekordler. „Aber da kam ein totaler Außenseiter auf“, erinnerte Wontorra 2019 anlässlich des 35-jährigen Geburtstags seiner Reportage bei „Mein Sportpodcast“: „Michael wurde langsamer, und da dachte ich, ich versuche noch mal, dass er sich nicht abfangen lässt.“ Doch die Macht der Kommentators auf der Tribüne war im Becken von Los Angeles nicht spürbar. Gold holte sich Groß noch mit der Staffel und – das unerwartet – über die kürzere Delfin-Strecke, die 100 Meter. Wontorra ärgerte sich ein wenig, „weil diese Übertragung das ZDF hatte“. Er war der ARD-Mann. Jedoch: Sein Satz aus dem Silber-Rennen machte die große Karriere: „Es wurde ein geflügelter Satz.“ Der 2019 als einer von drei Reportage-Sätzen (neben Bruno Moravetz’ „Wo ist Behle?“ von 1980 und Hans-Heinrich Isenbarts „Und Halla lacht“ von 1952) auf Sonderbriefmarken der Deutschen Post verewigt wurde. Wontorra: „Und mein Satz bekam die teuerste Marke, die für 1,45.“
Michael Groß war ein deutscher Sportheld. Das Schwimmen gehörte den Stars aus den USA und der DDR, ein Westdeutscher schien da gar nicht reinzupassen. Doch Groß war ein Ausnahmetalent, gut schon mit 16. Aber für die Medien unnahbar. „Er war sehr spröde, mochte keine Interviews, Medienleute waren ihm suspekt, Michael wollte einfach nur schwimmen“, erinnert sich Wontorra, ab 1976 Schwimmexperte der ARD. Über die Mutter von Michael Groß, die die Wettkämpfe vor Ort auf der Tribüne verfolgte, fand er Zugang. „Sie hat ihm näher gebracht, dass Reporter nicht so schlimm sind, wie er dachte.“ Was Groß und Wontorra weiter zueinander brachte, war eine achtstündige Fahrt im Andenexpress 1982 nach der Weltmeisterschaft in Guayaquil: Der Zug hatte ein Sonnendeck, Schwimmstar Groß bekam auf einer Höhe von 3000 Metern zu viel Sonne ab, Jörg Wontorra half dem „fast Gehäuteten“.
Der Begriff „Albatros“ stammt nicht von Wontorra, er war die gängige Bezeichnung für Groß mit seinen auffallend langen Schwingen. Den Satz mit dem fliegenden Albatros „konnte man nicht planen“, so Wontorra, „der kam aus der Emotion heraus. im Rennen, weil man nahe dran ist und ihm den Sieg gönnt.“
Jörg Wontorra kommentierte Schwimmen bis zur WM 1991, dem letzten großen Wettkampf von Michael Groß. Dann wanderte er vollständig ab in den Fußball und zum Privatfernsehen, wo er auch die Sat1-Vermisstensuche „Bitte melde dich“ moderierte. „15 Jahre Kacheln zählen war genug“, sagt er. Als Nachfolger hatte er Thomas Wark aufgebaut (heute ZDF). Ihm riet er frühzeitig, sich in der Redaktion um das Ressort Schwimmen zu bewerben, „weil die Weltmeisterschaften an den schönsten und exotischsten Orten stattfinden, zu denen man sonst nie hinkommen würde“, so erzählte es Wark kürzlich im Podcast „Plattsport“.
Wontorra denkt ans Schwimmen heute „ohne Wehmut, aber dankbar“.