In guten wie in schlechten Zeiten

von Redaktion

Sabine Kehm war Journalistin und hat sich zur Vertrauten von Michael Schumacher und dessen Familie entwickelt

VON DANIEL MÜKSCH

München – Für Journalisten sind es Gewissensfragen. Erst recht im Jahr 1999. Als (Print-)Redaktionen Sparen noch nicht zum Geschäftsprinzip erklärt hatten und nicht eine Stelle nach der anderen strichen. Soll ich die Seiten wechseln? Kann ich es mit meinem journalistischen Berufsethos vereinbaren, in der PR-Branche zu arbeiten? Mit einem Produkt, einer Person so verbunden zu sein, dass ich für meinen Arbeitgeber Schadensbegrenzung betreibe, anstatt an der spannendste Geschichte für die Leser zu recherchieren.

Diese Fragen stellt sich Sabine Kehm im Herbst 1999. Sie hat das Angebot auf dem Tisch liegen, die Medienarbeit für den deutschen Formel-1-Superstar Michael Schumacher zu übernehmen. Sein Manager Willi Weber unterbreitet ihr diese verlockende Offerte. Zunächst unter dem Vorwand, es handele sich um den Posten bei Ralf Schumacher. Schnell wird der gebürtigen Bayerin jedoch klar: Sie soll die Medienaktivitäten des zu diesem Zeitpunkt zweimaligen Weltmeisters Michael leiten.

Doch die Diplom-Sportlehrerin zögert. Sie ist 34. Hat sich in den letzten Jahren in der Formel-1-Familie einen guten Namen aufgebaut. Als Journalistin schreibt sie für angesehene Zeitungen. Zu Beginn ihrer Laufbahn bei der „Welt“ aus dem Axel-Springer-Verlag und zum Zeitpunkt der Schumi-Offerte als Redakteurin der „Süddeutschen Zeitung“. Soll sie in dieser luxuriösen Position die Seiten wechseln? Verbaut sie sich so gar die Rückkehr-Option in den seriösen Journalismus?

Zur Formel 1 kommt Kehm in ihrem ersten Jahr als Jungredakteurin bei der „Welt.“ Sie schreibt hauptsächlich über Tennis und Fußball. Boris Becker und Steffi Graf als neue deutsche Sportikonen, So wie der zu jeder Zeit präsente König Fußball. Aufregende Themen, die aber so gut wie jeder Sportjournalist in dieser Phase beackert. Wenig Platz für die ehrgeizige junge Frau sich zu profilieren. 1994 sorgt dann ein junger Deutscher in der im Sport-Journalismus zum Teil belächelten Formel 1 für Furore. Dieser Fahrer stammt aus Kerpen, heißt Michael Schumacher und gewinnt seine ersten Rennen. Als sich von den etablierten Kollegen niemand freiwillig für die Formel 1 erwärmen kann, greift Kehm zu. Sie fährt zu ihrem ersten Formel-1-Grand-Prix nach Hockenheim und besetzt das unbeliebte Thema. Nichtsahnend, dass dies ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Ihre ersten Jahre als Formel-1-Journalistin verlaufen unauffällig. Für die „Welt“ bekommt sie erste Exklusiv-Interviews mit Michael Schumacher, der die Formel 1 spektakulär ins Rampenlicht und auf die Titelseiten rückt.

In ihrem zweiten langen eins zu eins Gespräch mit dem deutschen Ferrari-Pilot zeigt sich Kehm beeindruckt: „Mitten in einem seiner Sätze ging die Tür auf und einer von Michaels Ingenieuren kam herein. Er sagte: ,Sorry, ich muss kurz unterbrechen. Michael, wir haben hier Daten, die können wir nicht zuordnen. Wir sind uns nicht sicher, wie die zustande gekommen sind. Wir brauchen dich noch einmal für drei Runden, damit wir diese Daten verstehen.’ Er stand auf, zog den Overall wieder zu, lief runter, drehte diese drei Runden und kam wieder in den Raum, in dem wir für das Interview saßen. Er setzte sich hin, machte den Overall wieder auf und sprach den Satz zu Ende“, erinnert sie sich vor einigen Jahren in einem Interview. Aus der anfänglichen Notlösung Formel 1 wird Leidenschaft, mit der sie viele Geschichte aufschnappt und aufschreibt.

All das spukt in ihrem Kopf herum, während sie 1999 das Für-und-Wider des Angebots von Willi Weber abwägt. Letztlich überwiegt eine Eigenschaft, die die meisten Medien-Profis auszeichnet – eine kaum stillbare Neugier. Der unverstellte Blick hinter die Kulissen, Sie startet 2000 in die neue Aufgabe.

Für Schumacher beginnt mit dem Start der Saison 2000 nun seine erfolgreichste Zeit beim italienischen Edel-Rennstall. Er holt seine erste Weltmeisterschaft im roten Ferrari. Vier weitere Titel folgen. Schumacher avanciert zur lebenden Legende. Nicht nur in Italien. Sondern auch in Deutschland. Schwarz-rot-goldenes Schumi-Land. Kehm wird berühmt als die Frau, die mit dem Diktiergerät in der Hand neben dem neuen deutschen Sportidol ausharrt. Ihn beschützt. Vor sich selbst. Und vor gierigen Ex-Kollegen. In jedem Interview. Vor jeder Kamera. Das Verhältnis zu früheren Journalisten-Kollegen an der Strecke ist nicht immer einfach. Schumacher soll nicht nur in „auto, motor sport“ oder „Sport Bild“ vorkommen. Ein Star für alle soll er sein. Doch schnell ist ihr die simple Pressearbeit nicht mehr genug. Sie strebt nach mehr Verantwortung.

Schumacher thront derweil auf dem deutschen Sport-Olymp. Wird mit jedem Titel früher zur lebenden Legende. Der letzte Ferrari-Titel folgt 2004. 2006 tritt Schumacher zurück. Er will nicht allmählich in die zweite Reihe ausgebremst werden. Da gerät sein Manager Willi Weber in die Schlagzeilen. 2007 klagt ihn die Staatsanwaltschaft Koblenz wegen Anstiftung zur Untreue in einem besonders schweren Fall an. Es folgen weitere Anklagen wegen Untreue und Insolvenzverschleppung. Komplizierte Prozesse starten. Weber zu Geldstrafen und Bewährungsstrafen verurteilt. Parallel spielt Schumacher mit dem Gedanken, in die Formel 1 zurückzukehren. Der Manager ist strikt dagegen. Zwischen den langjährigen Weggefährten kommt es zum Streit. Kehm steht loyal zu Schumacher. Als er sein endgültiges Comeback auf einer Pressekonferenz 2010 verkündet, sitzt neben ihm auf dem Podium Sabine Kehm. Sie ist ab sofort Schumachers neue Managerin.

Sportlich läuft Schumis Comeback überschaubar. 2012 sagt er der Königsklasse zum zweiten Mal „Auf Wiedersehen“. Aber der früher oft verbissene Schumacher wirkt ruhig und gelassen. Es scheint, seinen inneren Frieden mit dem Sport geschlossen zu haben.

Bis ein Tag alles verändert. Für Schumacher. Seine Familie. Freunde. Fans. Und Sabine Kehm. Der 29. Dezember 2013. Fast auf den Tag genau 14 Jahre nachdem Kehm ihren Dienst bei Schumacher begonnen hat. Beim Skifahren in Meribel in den französischen Alpen stürzt Schumacher. Er erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. Mit dem Helikopter wird der Deutsche ins Krankenhaus nach Grenoble geflogen und ins künstliche Koma versetzt. Es folgen bange Stunden. Kehm befindet sich im Urlaub, bricht jedoch sofort zum Krankenhaus auf.

Dort hat sich bereits die internationale Presse eingefunden. Kamerateams belagern den Ort. China, Australien, USA – von überall sind sie gekommen. Zunächst bleibt Kehm in dieser Extremsituation bei ihrer Art. Nimmt sich Zeit. Versucht mit den Journalisten vor Ort zu reden. Teilt Informationen, damit sich die Medienvertreter nicht mit Spekulationen gegenseitig übertrumpfen wollen. Doch sie muss einsehen – es ist aussichtslos. Mit einem traurigen Höhepunkt: Ein als Priester verkleideter Journalist versucht, an das Krankenbett Schumachers zu gelangen. Die Sicherheitsvorkehrungen werden noch einmal verstärkt. Die fünfte Etage, auf der Schumacher um sein Leben kämpft, wird rund um die Uhr bewacht. Für Kehm ist es in diesen Tagen schwer zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. In der Lobby bieten Pfleger Fotos an, die angeblich im Zimmer des Rekordweltmeisters entstanden sein sollen.

Für Kehm sind das Vorboten für ihr Leben, nachdem die Motorsportlegende das Krankenhaus in Frankreich verlassen hat. Die Familie entscheidet sich, den Schumachers Zustand aus der Öffentlichkeit heraus zu halten. Als Person der Zeitgeschichte muss die Familie zwar eine gewisse Form der Berichterstattung akzeptieren, aber diese hat juristische Grenzen. Was Zeitungen und Zweitschriften in Hoffnung auf höheren Auflagen mit Schumacher auf der Titelseite ignorieren. Gegen jeden angreifbaren Artikel geht Kehm, die wie die Familie ebenfalls in der Schweiz lebt, mit Anwälten vor. Fast immer erfolgreich.

Heute darf über den Zustand des 51-Jährigen so gut wie nichts mehr berichtet werden. Die Arbeit von Kehm hat sich verlagert. Sie ist für die Belange der gesamten Familie verantwortlich. Die meiste Zeit für Sohn Mick. Nach erfolgreichen Auftritten in der deutschen und italienischen Formel 4 geht Mick in der europäischen Formel 3 an den Start, wo er 2018 den Titel gewinnt. Seit 2019 zählt der 21-Jährige zur Nachwuchsakademie von Ferrari und fährt in der Formel 2. Mit dem Traum von der Formel 1 zu ergattern.

Sein Fels auf diesem vorurteil-beladenen Weg mit dem berühmten Nachnahmen: Sabine Kehm. Wie schon bei seinem Vater. Aus ihrem Diktiergerät ist nur ein Smartphone geworden. Mit dem wird sie Mick Schumacher aber so vehement beschützen, wie sie es schon bei seinem Vater gemacht hat.

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