„Lewandowski braucht diesen Pott“

von Redaktion

Stefan Effenberg über unvollendete Karrieren, Final-Erfahrung – und Davies als Besten Europas

München – Niederlage 1999, Triumph 2001 – Stefan Effenberg kennt sich aus mit Champions-League-Endspielen. Vor dem Finale gegen Paris blickt der ehemalige Kapitän (52) im Interview auf den FC Bayern – und sagt: „Sie werden bluten.“

Herr Effenberg, die Bayern im Finale – verdient?

Vollkommen. Unterm Strich steht der FC Bayern mit Recht da, wo er steht. Jetzt wartet ein großer Gegner – aber Bayern ist genauso groß.

Wie ordnen Sie das 3:0 gegen Lyon ein?

Sollte Paris zu solchen Möglichkeiten kommen, werden sie die nicht liegen lassen. Die haben schon noch mal eine andere Qualität da vorne drin. Das ist eine Gefahr! Da muss Bayern aufpassen! Gegen Lyon hatten sie Glück – und Manuel Neuer. Das haben sie beides gebraucht.

Paris ist Ihr Favorit?

In diesem Spiel gibt es keinen Favoriten. Das wird ein Duell auf Augenhöhe – in allen Bereichen. Die haben schon beide enorme Qualität, wir dürfen uns auf ein richtig großes Fußballspiel freuen, mit vielen Offensivszenen. Und ich sage Ihnen: Du willst in so einem Spiel auch gar nicht Favorit sein. Das ist schon eine Last auf den Schultern, die du dann zu tragen hast.

Lothar Matthäus sagte: Wenn Bayern gegen Paris spielt wie gegen Lyon, verlieren sie.

Das, was Lyon hat liegen lassen, wird Paris bestrafen. Deswegen wird Bayern nicht so extrem pressen können. Und sie brauchen Jerome Boateng. Das ist für mich ein entscheidender Punkt für Sonntag. Die Abwehr muss stehen!

Ist dieser Titel im Corona-Jahr denn genauso viel wert wie sonst?

Der Wert ist schon derselbe. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was danach los sein wird. Wir hatten damals einen Riesenempfang, die ganze Stadt war auf den Beinen. Allerdings spielt das für die Spieler jetzt auch überhaupt keine Rolle. Wenn du diesen Pokal hast, dann ist es das Größte, was es gibt.

Muss Flick umstellen?

Es gibt keinen Anlass, jemanden auszutauschen, aber es wäre sinnvoll, die Kette ein wenig zurückzuschieben. Den schnellen Spielern von Paris würde ich nicht 30, 40 Meter im Rücken geben.

Paris wirkte im Halbfinale stark, als Team. Trotzdem reden viele über Neymar als Schlüssel – und Lewandowski auf Bayern-Seite.

Und das finde ich falsch! Zum einen kann man die beiden nicht vergleichen. Außerdem lebt so ein Finale von viel mehr als Einzelspielern. Da kommst du rein und weißt: Jetzt musst du funktionieren. Die Tagesform wird entscheidend sein. Nicht nur bei Neymar und Lewandowski.

Wie sehen Sie die Weltfußballer-Debatte, die stets mitschwingt?

Stand Sonntag spielt sie keine Rolle. Denn Robert Lewandowski hat es bis heute nicht geschafft, diesen Pokal zu gewinnen. Dafür tritt er an, dafür ist er bei Bayern. Der Henkelpott hat absolute Priorität. Wenn sie es schaffen, hätte er es logischerweise verdient.

Was passiert im Kopf zwischen Halbfinale und Endspiel?

Viel. Und ich sage aus Erfahrung: Bevor ich ein Finale verliere, scheide ich lieber im Halbfinale aus. Das sind die größten Schmerzen, die du haben kannst. Hört sich bescheuert an, ist aber so. Das sind keine guten Tage, das hängt lange in den Knochen.

Hatten Sie 1999 beim Blick auf den Henkelpott ein anderes Gefühl als 2001?

(überlegt) Du musst ja auf dem Weg aufs Feld daran vorbeigehen. Das Gefühl vorher war nicht groß anders, aber natürlich das danach. Wenn du dann in der Kabine sitzt und hörst von nebenan Freude pur, während du am Boden liegst. Das trifft dich doppelt und dreifach. Aber es war und ist immer eine Motivation. Wir wussten 1999: Wir sind so gut, wir müssen aufstehen und weitermachen. Die Champions League war ja für uns ein realistisches Ziel, keine Spinnerei.

Wie heuer auch.

Auf jeden Fall! Und vor allem für einen: für Robert Lewandowski. Dieser Sonntag ist für ihn schon ein extrem wichtiger Tag. Er ist seit sechs Jahren beim FC Bayern, immer knapp dran, aber das hilft nichts. Lewandowski braucht den Henkelpott für eine vollendete Karriere. Da führt kein Weg dran vorbei. Du kannst zum zehnten Mal Deutscher Meister werden, aber das zählt nicht.

Wie wichtig ist der Kopf?

Sehr. Gegen Lyon haben sie zwei, drei Mal gewackelt, das sah man sofort an der Körpersprache. Lyon hat in diesen Phasen selber das Spiel verloren. Und man hat gesehen: Bayern ist verwundbar.

Müller, Boateng und Neuer sind tragende Säulen mit Final-Erfahrung. Müller hat gesagt, vom Gefühl her hätte er den Pott schon öfter holen müssen.

Da hat er Recht. Es war ja immer knapp. Auf der anderen Seite kann er sagen: Ich habe das Ding schon ein Mal gewonnen. Das ist ein ungemein beruhigendes Gefühl.

Paris kennt das noch nicht.

Und das, obwohl sie seit Jahren einen Kader aufbauen der diesem Pott hinterher hechelt. Dieser Hunger, mit dem die ins Spiel gehen, wird riesengroß sein. Das darf man nicht unterschätzen!

Beginnt gerade eine Bayern-Ära?

Wir sind mittendrin in einer Ära, national sowieso, auch international genießt Bayern höchsten Respekt. Zu Recht. Sie haben sich das erarbeitet, eindrucksvoll. Sie haben schon jetzt eine geile Zeit geprägt. Aber du brauchst halt diesen Pokal.

Joshua Kimmich steht sinnbildlich für diese Generation. Ist er der designierte Kapitän?

Darauf läuft es hinaus – den Anspruch hat er auch selber. Und ich bin mir sicher, dass er mit dem ganzen Drumherum, dem Druck, umgehen kann. Er wird der Kopf des FC Bayern in der Zukunft werden. Er ist ein hochintelligenter Spieler und fordert auch viel. Das gefällt mir! Solche Typen gibt es nicht mehr oft.

Er ist eine wichtige Konstante, hinter anderen Führungsspielern stehen vertragstechnisch hingegen noch Fragezeichen.

Also so leid es mir tut: Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn können keinen Urlaub machen. Denn nach dem Finale gibt es einige Baustellen, die echt spannend werden. Einige Verluste würden schwer wiegen. Bis zum Start der Saison am 11. September musst du dein Gerüst haben.

Die nächste Saison wird lang und anstrengend.

Das wird ein enormes Programm, eine extreme Belastung. Und dafür brauchst du einen breiten Kader mit viel Qualität, so einen, wie du aktuell hast. Und man darf nicht unterschätzen, dass dieses Finale am Sonntag für den Kopf unfassbar wichtig ist, für die Zukunft des FC Bayern. So eine Mammut-Saison mit EM zum Abschluss – die spielt sich schon leichter mit dem Triple in der Hand.

Ist Alaba die wichtigste Personalie von allen?

Ich sehe auch die Personalie Boateng als enorm wichtig. Die Jungs müssen halt selber in sich gehen und sich fragen: Was möchte ich noch erreichen? Was möchte ich noch sehen? Ich bin ein Freund von neuen Kulturen, meine Zeit in Italien hat mir rückblickend viel gegeben. Wenn Uli (Hoeneß/d.Red.) sagt, auf die eine Million mehr kommt es nicht mehr an, hat er Recht. Aber da spielen ja schon auch andere Dinge eine Rolle. Ich würde verstehen, wenn Alaba gehen will. Aber ich verstehe auch, wenn er am Ende für drei Jahre verlängert. Für den FC Bayern wäre das extrem wichtig.

Ivan Perisic?

Sofort verlängern! Das ist ein Spielertyp, den ich mag. Der opfert sich, reibt sich auf, beißt, gibt nie auf, macht alles für den Erfolg. Und stänkert nicht. Den brauchst du!

Was wird Leroy Sané der Mannschaft geben?

Einiges. Auch wenn du erst mal dem einen oder anderen wehtun müssen wirst, weil er auf die Bank muss. Und Sané Zeit geben musst. Wenn man von Anfang an sagt, auf den kommt es jetzt an, macht man einen Fehler. Geduld ist im Falle Sané wichtig.

Hansi Flick scheint da der richtige Mann.

Das wirkt mir auch so. Er ist da wie Jupp Heynckes und Ottmar Hitzfeld. Und damit meine ich nicht, dass sie immer nett sind. Ottmar Hitzfeld hieß nicht umsonst der General, da gab es schon Aktionen, in denen ich dachte: Puh, zum Glück hat es mich nicht getroffen (lacht)! Aber wenn du so viele Stars in deinen Reihen hast, musst du das menschlich beherrschen. Flicks Vorteil ist es, dass er aus seiner Zeit bei der Nationalmannschaft weiß, wie er mit den Großen umgehen muss. Das ist ein Pfund!

Mit der Perspektive, dass er mal ein bisschen länger bleibt als drei Jahre.

Das wünsche ich mir auch! Dass er derjenige ist, der jetzt anfängt, eine neue Ära zu prägen. Dass er es kann, hat er eindrucksvoll bewiesen.

Hat er den Vorteil, die Mannschaft am Ende eines gelungenen Umbruchs übernommen zu haben?

Sicherlich kommt das dazu. Schweinsteiger, Lahm, Robben, Ribéry – den Umbruch haben sie nahezu in Perfektion hingekriegt. Das spricht aber nicht nur für den Trainer, sondern für das ganze Umfeld. Und wenn du dann auch noch erfolgreich bist, redet man auch nicht darüber, dass man vielleicht noch einen auf der Bank sitzen hat, der 80 Millionen Euro gekostet hat – und nicht spielt. Diese Diskussionen fangen erst an, wenn du Spiele nicht gewinnst. Auch das wird irgendwann kommen, aber hoffentlich nicht am Sonntag…

Ihr Lob geht also auch an Salihamidzic und Kahn?

Total. Natürlich müssen die beiden in ihre Jobs noch reinwachsen. Aber die können das! Oliver zu holen, war ein kluger Schachzug. Und Brazzo entwickelt sich auch positiv. Die machen eine hervorragende Arbeit. Wenn Karl-Heinz Rummenigge Ende 2021 abdankt, kann er sich ruhigen Gewissens zurückziehen. Man müsste sich mehr Sorgen machen, wenn Bayern jetzt 2:8 gegen Barcelona verloren hätte (lacht).

Salihamidzic war für den Transfer von Alphonso Davies verantwortlich. Ist das das Modell der Zukunft: Talente statt Stars?

Ich glaube, dass sie diese Philosophie an den Tag legen werden. Und ich finde sie gut. Allerdings müssen Topclubs wie Bayern auch aufpassen, dass sie die Balance halten. Nur mit jungen Spielern wirst du solche Titel nicht holen. Das hat man bei Lyon gesehen – und bei Dortmund.

Wenn alle so unbekümmert wären wie Davies…

Der ist Wahnsinn! Und zeigt jungen Spielern, wie schnell es gehen kann. Wenn man alles investiert, das Vertrauen bekommt und durchstartet. Der ist ja gar nicht mehr wegzudenken vom FC Bayern. Und wenn du eine Best-of-Champions-League-Elf aufstellst, gehört er da rein.

Der Beste Europas?

Sehen Sie auf dem Niveau einen anderen Linksverteidiger? Ich nicht!

Ist der Bayern-Erfolg ein gutes Omen für die EM?

Wenn Sané dann auch bei 100 Prozent ist, können wir uns auf die EM freuen.

Mit oder ohne Müller?

Da können wir Boateng auch dazunehmen. Auch wenn Löw und Bierhoff die Tür zulassen, weiß ich nicht, wie lange noch. Wenn die die Champions League gewinnen, wird der Druck von außen extrem hoch. Wobei die beiden das Niveau auch erst mal halten müssen. Aktuell ist Müller eine Wucht und hat zu Recht viele Fürsprecher. Und Boateng ist für mich der beste deutsche Innenverteidiger. Punkt.

Der nun Neymar und Mbappé stoppen soll.

So sieht es aus. Ich tippe auf einen knappen Bayern-Sieg. 2:1. Sie werden viel investieren müssen, sie werden bluten. Aber sie werden sich durchsetzen.

Interview: Hanna Raif

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