München – Patrick Ittrich, 41, aus Hamburg ist Bundesliga-Schiedsrichter. Einer, der eher mal eine Karte zu viel zeigt als eine zu wenig. Über seine Karriere und Passion hat er ein Buch geschrieben.
Herr Ittrich, als es hieß, Sie hätten ein Buch geschrieben, sagte ein Kollege: „Patrick Ittrich? Der hat 1860 mal furchtbar verpfiffen.“ Können Sie sich erinnern? Und: Bekennen Sie sich schuldig?
1860 München habe ich häufig gepfiffen, in der 2. und einige Male der 3. Liga. Ich war auch der Schiedsrichter beim ersten Relegationsspiel zur 2. Liga, 2017 in Regensburg. Das war aber anständig. Ich wüsste nicht, wann ich ganz danebengegriffen hätte.
Welche Spiele merkt der Schiedsrichter sich eher: Die ge- oder die misslungenen?
Mehr die, die gut gelaufen sind. Denn sie sind in der Überzahl. Die anderen bleiben an einem haften und gehören zur Vita dazu. Mein Credo aber ist: Merk dir die positiven Erlebnisse.
Fußballinteressierten, die Ihren Namen nicht einem Gesicht zuordnen können, sagt man: Das ist der, der mal über eine seiner Entscheidungen auf dem Feld gejubelt hat. 2015 in Kaiserslautern, weil Sie erkannten, dass sich eine Vorteilssituation anbahnt – die dann auch in einem Tor mündete.
Ich weiß nicht, ob sich die Menschen wirklich daran erinnern. Jubel – der Begriff ist übertrieben. Ich hatte die Hände länger oben als beim Anzeigen eines Vorteils üblich. Nun, die Reaktionen darauf waren belustigt. Schiedsrichterkollegen meinten: ,Da hast du dich abgefeiert.“ – Ich sagte: „Zu Recht.“ Das macht man ein-, zweimal in der Karriere, man wird ja auch souveräner.
Einen Nachahmer gab es nicht.
Grundsätzlich ist es auch besser, sich nicht durch seine Art in den Fokus zu rücken, denn wir wollen ja unauffällig sein. Weniger ist da mehr. Und ich will mit meinem Buch für den Job werben und die Gewinnung von Schiedsrichtern vorantreiben.
Wenn wir aus Ihrem Buch einen Leitfaden für Schiris zusammenstellen müssten, wäre es das: Wichtig ist es, eine Linie zu finden, die erste Gelbe Karte muss sitzen, und bei Rudelbildungen von Spielern sollte man standhaft bleiben und resolut sein.
Genau, am besten ist es, Akzeptanz zu schaffen, Unsicherheit macht angreifbar. Ich würde auch sagen, dass nicht nur die erste Gelbe Karte sitzen soll, sondern die erste Entscheidung. Auch wenn es nur darum geht, wer Einwurf hat. Aber es kann eine Entscheidung von hohem Wert sein. Der gute Einstieg ins Spiel ist elementar.
Sie sind ja auch ein Erste-Entscheidungs-Rekordhalter in der Bundesliga.
Ja, schnellste Gelbe Karte. Nach acht Sekunden. 2016, gegen den damaligen Freiburger Florian Niederlechner. Ab dem Anpfiff kann eben alles passieren.
Etwas überraschend finden wir Ihre Maxime, dass Sie sich als Schiedsrichter nie für etwas öffentlich entschuldigen würden.
Das überrascht viele. Aber man muss es im Zusammenhang sehen. Ja, ich treffe Fehlentscheidungen, doch nicht mit Absicht. Den Fehler kann ich zugeben und mich erklären, doch ich muss nicht zu Kreuze kriechen und eine Entschuldigungsarie anstimmen. Das Wort „entschuldigen“ ist mir zu hoch gegriffen. Man muss schon auch ein gesundes Selbstbewusstsein haben – und der Spieler, der beim vierten Versuch das Tor trifft, entschuldigt sich doch auch nicht dafür, dass er es die drei Male zuvor nicht geschafft hat.
Wenn man anschaut, was ein Schiedsrichter alles so mit sich führen muss – sind sie nicht allmählich übertechnisiert?
Der Fortschritt macht nicht Halt, und lange hatten wir für den Schiedsrichter keine Technik. Es ist viel, ja: Das Headset, die Uhr für die Torlinientechnologie, die eigene Uhr, die die Laufleistung misst, das Freistoßspray. Die Technik gehört dazu, ich nehme sie gerne an.
Dass ein aktiver Schiedsrichter ein Buch schreibt, ist nicht unproblematisch. Schon weil Kollegen da meinen könnten, da wolle sich einer doch nur in den Vordergrund spielen.
Sicher ist es ein schmaler Grat, aber ich habe das mit dem Buch transparent gemacht. Der DFB und die Gruppe der Elite-Schiedsrichter wussten Bescheid. Wer mich kennt, weiß, ich bin ein Typ, der es gerne macht. Wer mich sehr gut kennt, weiß auch, dass ich absolut ehrlich bin. Wenn es trotzdem welche nicht gut finden, nehme ich es in Kauf. Ich will einfach vermitteln, was Schiedsrichter für ein toller Job ist.
Sie werben für die Schiedsrichterei. Es gibt jedoch Problemstellen: Gewalt gegen Schiedsrichter, vor allem im Amateurbereich.
Gewalt gab es immer, sie richtet sich nicht nur gegen den Schiedsrichter, sondern findet auch unter Spielern statt. Der Großteil der Spiele läuft vernünftig ab, jeder Fall von Gewalt ist einer zu viel, doch heutzutage werden auch viele Fälle mit Bildmaterial publik. Wichtig ist, dass im Profibereich ein Beispiel gegeben wird für den guten Umgang miteinander, aber auch mit den Schiedsrichtern: Dass man sie ordentlich begrüßt und ihnen nicht die letzte Kabine zuteilt.
Sie selbst sagen, Sie hätten nie einen Bestechungsversuch erlebt. Glauben wir Ihnen natürlich – aber Matchfixing ist ein real existierendes Problem des Fußballs, und seit Robert Hoyzer, der vor 15 Jahren unter anderem ein DFB-Pokalspiel manipulierte, wissen wir, dass der Schiedsrichter ein potenzielles Einfallstor ist.
Wenn Sie mich fragen: Ein absolutes No-Go! Unparteilichkeit ist für uns Schiedsrichter das höchste Gut, der Wert, für den wir eintreten. Ich kann nur für mich sprechen und für niemanden die Hand ins Feuer legen. Ich habe das wirklich nie erlebt. Sobald irgendwo um mich herum ein Ansatz wäre, würde ich das melden.
Auch bei Schiedsrichtern geht es um Auf- und Abstieg, seit Manfred Amerell (Schiri-Obmann, stand in einer Beziehung zu einem jungen und von seinen Einschätzungen abhängigen Referee) ist bekannt, dass Karrieren durch Protegieren und Lobbyieren beeinflusst werden können. Welchen Konkurrenzdruck empfinden Sie?
Momentan gar keinen. Ich bin seit fünf Jahren in der Bundesliga, auf die Liste der FIFA-Schiedsrichter schaffe ich es nicht mehr, weil ich mit 41 schon zu nahe an der Altersgrenze bin. Mein Anspruch ist es, das nächste Spiel gut zu pfeifen. Ich sehe mich in einer guten Position.
Sie waren Assistent von Babak Rafati, der 2011 vor einem Bundesligaspiel einen Suizidversuch beging. Sie und die Kollegen bemerkten das rechtzeitig, konnten seine Rettung veranlassen. Sie erwähnen diese prägende Geschichte erst am Ende des Buches und nur kurz. Warum?
Ich wollte erzählen, wie ich dadurch zur Sportpsychologie kam, denn dass uns diese Betreuung offenstand, das war die Folge aus dem Fall. Wie es den Helfern geht, die so etwas erleben, das wird häufig vergessen.
Kontakt zu Rafati, mit dem Sie befreundet waren, haben Sie seitdem nicht mehr. Er wollte keinen. Aber auch er hat ein Buch geschrieben. Haben Sie’s gelesen?
Ja. Wichtig war es mir nicht, aber es hat mich interessiert. Ich habe mit dem Fall abgeschlossen.
Bei der Polizei sind Sie als Handpuppenspieler in der Verkehrserziehung tätig. Früher hatten Sie auch Einsätze bei der Sicherung von Fußballspielen, standen in Polizeiketten Fans gegenüber. Beeinflusst Sie heute, was Sie damals erlebt haben, wie ernst Fußball genommen wird?
Der direkte Kontakt mit Fans, der sich auch mal anders äußert als durch Schreierei, ist nicht immer angenehm. Man merkt, welche Dynamik aus Gegentoren entstehen kann. Aber auf diese Befindlichkeiten darf ich als Schiedsrichter keine Rücksicht nehmen. Ich muss entscheiden, was richtig und falsch ist. Und das tue ich mit größter Leidenschaft, weil ich es liebe, Schiedsrichter zu sein.
Interview: Günter Klein