München – Mit zweimonatiger Verspätung beginnt an diesem Samstag in Nizza die 107. Tour de France. Der ursprüngliche Termin der Frankreich-Rundfahrt (27. Juni bis 19. Juli) war wegen der Corona-Pandemie nicht zu halten. Unsere Zeitung beantwortet die wichtigsten Fragen zum nach der Verschiebung von Olympia und Fußball-EM größten Sportereignis des Jahres.
Wie besonders wird diese Tour de France?
Eigentlich ist es ein kleines Wunder, dass die Frankreich-Rundfahrt des Jahres 2020 jetzt doch rollt – auch angesichts der fragilen Corona-Lage im Land. Auf jeden Fall wird die Tour anders: Weniger Zuschauer, weniger Stimmung, abgeschirmte Teams und Fahrer – die Grande Boucle kann kein heiteres Volksfest werden.
Ist die Tour-Austragung nun gesichert?
Ganz klar: nein. Dass die Tour am Samstag losrollt, heißt noch lange nicht, dass sie am 20. September auch Paris erreichen wird. „Es wurden viele Maßnahmen getroffen“, sagt Ineos-Teamchef Dave Brailsford, „aber wenn wir an einen Punkt kommen, an dem die Fahrer einem zu großen Risiko ausgesetzt sind, müssen wir vielleicht handeln.“ Die Tour fährt auf Abruf, verschlimmert sich die Infektionslage, breitet sich das Virus gar im Fahrerfeld aus, ist ein Abbruch denkbar. Es wäre der erste in der 117-jährigen Tourgeschichte.
Wie wird auf Corona getestet?
Die Fahrer mussten sich sechs und drei Tage vor dem Grand Depart auf Corona testen lassen, zudem stehen Tests an den beiden Ruhetagen an. Zweimal täglich gibt es für jeden Profi eine „Gesundheits-Befragung“. Werden zwei Fahrer eines Teams positiv getestet, muss deren Mannschaft laut Vorgabe des Veranstalters ASO zurückgezogen werden. Seit Freitagnachmittag steht fest, dass es bei einem positiven Test auch eine Nachprüfung per zweitem Test gibt. Damit soll ausgeschlossen werden, dass Fahrer aufgrund einer falschen Diagnose der Infektion mit dem Coronavirus vom Rennen ausgeschlossen werden. „Das sind gute Neuigkeiten für den Radsport, jetzt kann ich besser schlafen“, sagte Bora-hansgrohe-Teamchef Ralph Denk: „Es ist ein Risiko, eine Entscheidung nur auf der Grundlage eines einzigen Tests zu treffen.“
Findet die Tour vor Zuschauern statt?
Generell ja – die Idee einer „Geistertour“ war auch mangels Durchsetzbarkeit auf knapp 3500 Streckenkilometern schnell vom Tisch. Dennoch rollt die Frankreich-Rundfahrt, die gewöhnlich von mehr als zehn Millionen Menschen besucht wird, unter starken Beschränkungen. Auch aufgrund der Zuschauer-Deckelung in Frankreich bei Großereignissen (5000 Personen) ist der Zugang zu Start- und Zielbereich stark limitiert, an den neuralgischen Bergpässen gibt es Zufahrtskontrollen, Wohnmobile und PKW sind dort nicht erlaubt. Tour-Chef Christian Prudhomme forderte alle Besucher an der Strecke zum Tragen einer Maske auf.
Wie sieht die Route aus?
Vom Start an immens bergig – schon am Auftaktwochenende geht es in Höhen über 1600 Meter. Von den 21 Etappen über 3484 km enden sechs mit einer Bergankunft, darunter auch das einzige Zeitfahren am vorletzten Tag. Die ersten beiden Bergankünfte stehen ungewöhnlich früh auf der vierten und sechsten Etappe an. Ebenfalls ungewohnt: Nur auf der 17. Etappe, die auf dem 2304 m hohen Col de la Loze endet, geht es über 2000 m hinaus. Einige neue oder selten gefahrene Berge sind im Programm, dafür fehlen ikonische Anstiege wie Tourmalet, Galibier oder L’Alpe d’Huez.
Wer sind die Favoriten?
Erwartet wird ein Schlagabtausch zwischen dem Team Ineos mit Titelverteidiger Egan Bernal und Jumbo-Visma um Vuelta-Sieger Primoz Roglic. Auf beiden Seiten gab es aber Probleme: Bernal hat Rückenbeschwerden, zudem nahm Ineos die formschwachen Topstars Chris Froome und Geraint Thomas aus dem Aufgebot. Roglic stürzte bei der Tour-Generalprobe Dauphiné schmerzhaft und muss auf seinen Co-Kapitän Steven Kruijswijk verzichten, der sich die Schulter brach. Als Kandidat für das Podium galt auch Emanuel Buchmann, Kapitän von Bora-hansgrohe. Die vor zwei Wochen bei der Dauphiné erlittenen Sturzverletzungen dämpften seine Erwartungen jedoch erheblich. Am Freitag sagte er: „Ich weiß nicht, in welcher Form ich bin. Das Podium als Ziel auszugeben, wäre schwierig.“ Die anfänglich starken Rückenschmerzen würden ihn nicht mehr behindern, doch „jetzt ist das Hüftgelenk ein bisschen das Problem, das merke ich noch deutlich.“
Könnte ein anderer deutscher Fahrer für eine Überraschung sorgen?
Sollte der angeschlagene Buchmann nicht in Tritt kommen, könnte die Stunde seines Bora-Teamkollegen Lennard Kämna schlagen. Der 23-jährige Neuzugang im Raublinger Rennstall sorgte schon 2019 bei zwei Tour-Alpenetappen mit den Rängen vier und sechs für Aufsehen. Zuletzt stellte Kämna, der auch ein guter Zeitfahrer ist, mit seinem Etappensieg bei der Dauphiné seine Topform unter Beweis. sid/mm