Berlin – Als der Rest der Welt von den 100 Metern träumte, legte Johannes Vetter seinen Speer erst einmal entkräftet in die Ecke. „Ich bin durch, komplett fertig vom Kopf her. Und körperlich auch“, sagte der Weltmeister nach bewegten Tagen. Erst verblüffte er die Leichtathletik-Szene mit dem zweitbesten Wurf der Geschichte auf 97,76 m, dann folgte zwei Tage später die nächste Weltklasse-Leistung – und zwischendrin absolvierte er einen Medienmarathon von olympischem Format.
Vor dem Saisonabschluss beim ISTAF in Berlin am Sonntag (17.35 Uhr/ARD) häufen sich nun die Fragen nach einem erneuten Coup mit 90 Metern plus X in der Hauptstadt. Aber Vetter versucht, die Erwartungen im Rahmen zu halten. „Man muss da echt den Ball flach halten“, sagte er im Interview: „Leistungen über 85 Meter sind eigentlich immer eine Garantie dafür, um Medaillen mitzukämpfen. Um über 90 Meter zu werfen, muss schon viel zusammenpassen. Wir sind halt keine Maschinen.“
Ein Kunststück wie im polnischen Chorzow am Sonntag, als er den Weltrekord des Tschechen Jan Zelezny nur um 72 Zentimeter verfehlte, erklärte er jüngst der „Berliner Morgenpost“, sei wie ein „Freistoßtor bei einem WM-Finale aus 30 oder 40 Metern“. Es passiert nicht alle Tage, vielleicht sogar nie. Das Managen der Erwartungen von außen ist auch eine Aufgabe, die Vetter bewältigen muss. Denn alle fragen derzeit nach Olympia-Gold 2021, dem Weltrekord oder der 100-Meter-Marke.
Betont stolz gab er sich daher, als er am Dienstag nach 600 Kilometer langer Reise aus Polen nach Dessau dort 86,17 m warf – ebenfalls absolute Weltspitze: „Das war eine grandiose Leistung“, sagte er. Um im Olympiastadion wieder in die Nähe solcher Glanztaten zu kommen, verordnete sich Vetter eine Pause, bis einen Tag vorher wird nicht trainiert. „Ich bin froh, dass das ISTAF echt erst am Sonntag ist“, sagte der 27-Jährige. In der Hauptstadt hat sich der Weltmeister von 2017 um eine physiotherapeutische Behandlung gekümmert, damit er bis zum ISTAF wieder bei Kräften ist.
Vetter sprach von „anstrengenden Tagen“ nach seinem Fabelwurf in Polen, den medialen Trubel nehme er aber gerne in Kauf: „Nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Leichtathletik.“ Denn in der Corona-Zeit sind viele von Vetters Kollegen aus dem Rampenlicht geraten, einige ließen die Saison fast komplett aus und richteten den Blick gleich auf die verschobenen Olympischen Spiele in Tokio. Nicht aber Vetter. Er habe „die Situation einfach anders angenommen als viele andere“ und lieferte auch in einer verkürzten Saison Highlights am Fließband.
Ihm fällt es scheinbar leicht, in der Krise positiv zu bleiben. Sportler sieht er als „Vorbilder, die die Gesellschaft ein Stück weit mitziehen können“. Auch deswegen stellt er sich in diesem Sommer in den Wind. Die Leichtathletik sei, so Vetter, gar nicht so schlimm getroffen. Vetter und Co. haben immerhin Wettkämpfe vor Zuschauern, während kleinere Sportarten um das Überleben ringen. „Über die Nachwuchsarbeit, die Zukunft, die Aufmerksamkeit und die Reichweite anderer Sportarten mache ich mir viel größere Sorgen.“ Auch für sie wirft Vetter seinen Speer.