Lyon – Zwischen Meribel und München liegen 770 Fahrrad-Kilometer und zwei Landesgrenzen. Am Mittwoch allerdings werden beide Orte gleichermaßen zu Hauptschauplätzen der Radsportwelt: Am 2304 m hohen Alpenpass des Col de la Loze oberhalb Meribels findet eine der entscheidenden Schlachten der 107. Tour de France statt. Und am Landgericht der bayerischen Landeshauptstadt der Prozessauftakt im Zuge der Operation Aderlass. Dort könnte sich die derzeitige Ruhe an der Dopingfront als trügerisch erweisen.
„Es ist im Dopingmetier das spektakulärste Verfahren, das ich bearbeiten durfte“, sagte Oberstaatsanwalt Kai Gräber dem Magazin „Tour“ vor dem Prozess gegen Mediziner Mark S. Trotz der 145-seitigen starken Anklageschrift glaubt Gräber zwar „nicht, dass derart neue Informationen bekannt werden, die eine neue Erschütterung des Radsports zur Folge haben könnten“. Medizinisch erfahrene Ermittler haben allerdings Sprengstoff aufgespürt. Wie die belgische Zeitung „Het Nieuwsblad“ berichtet, sei ein neues Dopingpräparat entdeckt worden – H7379 Hemoglobine Human. Dabei handele es sich um menschliches Hämoglobin, das ähnlich wie EPO wirke.
Laut Ermittlern hätten Athleten mit dem noch nicht auf dem Pharmamarkt erhältlichen Mittel in Mikrodosen bereits 2016 und 2017 gedopt. Im Klartext: Wer das Zeug verwendet hat, ist dabei in der Regel unerkannt geblieben. Das gibt Raum für Spekulationen.
Zurück zur Tour: Mit Spekulationen aufgrund der Operation Aderlass müssen sich auch die zwei Top-Kletterer herumschlagen. Weil zu den im Zuge der Ermittlungen belasteten Profis auch ihre Landesleute Kristijan Koren und Borut Bozic gehören, gerieten die Slowenen Primoz Roglic und Tadej Pogacar ins Zwielicht – obwohl es keine belastenden Fakten gibt. Gestern begegnete Roglic Zweifeln an seinen Leistungen mit einem Doping-Dementi. „Von meiner Seite gibt es nichts zu verbergen. Man kann mir auf jeden Fall vertrauen“, sagte der slowenische Radprofi nach der 15. Etappe am Sonntag zum Grand Colombier. Es habe um 6.00 eine Kontrolle gegeben, und „jetzt hatte ich noch eine“. Sein Jumbo-Visma-Team war immerhin zuletzt wegen des Gebrauchs künstlich hergestellter Ketone beäugt worden. Als Nahrungs-Ergänzungsmittel stehen sie nicht auf der Verbotsliste, Herman Ram, Chef der niederländischen Anti-Doping-Agentur, spricht von einer „Grauzone“.
Die Leistungen an der Tourspitze sind in diesem Jahr – wertfrei gesagt – erstaunlich. Sowohl Titelverteidiger Egan Bernal als auch der Franzose Romain Bardet, beide starke Kletterer, erklärten baff, teils Wattwerte wie noch nie erzielt zu haben – und trotzdem mitunter chancenlos gegen die beiden Slowenen gewesen zu sein.
Erstaunliche Leistungen hinterlassen in Zeiten der Coronakrise ein ungutes Gefühl. Aufgrund dieser seien bis Ende August nur halb so viele Tests wie im Vorjahreszeitraum durchgeführt worden, teilte die Anti-Doping-Kommission des Radsports (CADF) mit. Roglics Tophelfer Tom Dumoulin klagte vor der Tour, er sei „seit Monaten nicht getestet worden“.. sid