Grand Colombier – Tadej Pogacar hauchte einen Kuss in die Luft und breitete im Ziel jubelnd die Arme aus, dann machte der Jungstar dem Mann in Gelb eine Kampfansage: „Mein Plan ist es jetzt, um den Toursieg zu kämpfen“, sagte das 21 Jahre alte Radsport-Wunderkind – das Rennen um den Gesamtsieg bei der Tour de France wird zum slowenischen Privatduell.
Im Showdown der Top-Favoriten verteidigte Primoz Roglic zwar die Gesamtführung, die erwartete Machtdemonstration blieb allerdings aus – der stärkste Fahrer im Feld ist vor der Schlusswoche sein Landsmann und Kumpel Pogacar. Für Egan Bernal ist die Mission Titelverteidigung derweil vorzeitig beendet. Der Kolumbianer erlebte gestern ein Desaster.
Pogacar gewann am Sonntag die brutale 15. Etappe mit der Zielankunft am Grand Colombier. Der Shootingstar vom Team UAE Emirates verwies im Bergaufsprint Roglic auf den 2. Rang. Dritter wurde der Australier Richie Porte (Trek-Segafredo).
„Es war eine sehr, sehr schwere Etappe. Jumbo war so stark, da hat es keinen Sinn gemacht zu attackieren“, sagte Pogacar angesichts der starken Vorarbeit von Roglics Team: „Also habe ich auf den Sprint gehofft. Einige Fahrer mussten heute bezahlen.“ Roglics Vorsprung auf Pogacar verringerte sich von 44 auf 40 Sekunden. Einen Teilerfolg verbuchte Roglic dennoch: Ineos-Kapitän Bernal brach am Schlussanstieg ein und verlor 7:20 Minuten auf die Spitzengruppe.
Die im Zentralmassiv zuletzt sehr aktiven Bora-Profis Maximilian Schachmann (Berlin) und Lennard Kämna (Wedel) hielten sich am Sonntag zurück. Ihr als Hoffnungsträger gestarteter Teamkollege Emanuel Buchmann (Ravensburg) ist weiter außer Form, seit einigen Tagen plagt ihn zudem eine Erkältung. Dafür zeigte sich der Berliner Simon Geschke. Der CCC-Profi war einer von acht Radprofis, die beim rund 100 km langen „Einrollen“ vor den drei schwierigen Anstiegen des Tages in eine Fluchtgruppe fuhren. Geschke hielt sich lange an der Spitze. Eine Chance auf den Sieg hatte er wie die anderen Ausreißer aber nicht.
Das Hauptfeld war schon an der bis zu 22 (!) Prozent steilen Montee de la Selle de Fromentel auf eine Gruppe um die Top-Favoriten und ihre Helfer geschrumpft. Auch am Col de la Biche gerieten Fahrer aufgrund des hohen Tempos der Jumbo-Mannschaft in Probleme, einige Bernal-Helfer waren ebenfalls betroffen.
Am Grand Colombier (1501 m), wo bei der Tour stets die Kolumbianer groß aufgetrumpft hatten, zeigten ausgerechnet die Südamerikaner zuerst Schwächen: Sowohl Nairo Quintana als auch Bernal ließen schon 13 km vor dem Ziel abreißen. Für den 23 Jahre alten Vorjahressieger geriet der Traum vom erneuten Triumph in Paris in weite Ferne. Die Entscheidung über den Tagessieg fiel im Zielsprint – dabei erwies sich Pogacar als der Stärkere.
Ein ungewohntes Bild zeigte sich am Schlussanstieg sowie bei der zweiten Bergwertung am Col de la Biche: Wegen steigender Corona-Infektionszahlen hatte das Departement Ain den Zugang für Fans zu den Bergen gesperrt. Statt durch eine Menschenmenge kletterten Roglic und Co. über weitgehend leere Pässe, begleitet vom Lärm der Begleitfahrzeuge und TV-Helikopter.
Am heutigen Montag steht neben dem zweiten Ruhetag auch die vierte und letzte Corona-Testreihe der Tour 2020 auf dem Plan. Wie bereits in der Vorwoche gilt: Zwei positive Tests in einem Team – egal ob Fahrer, Mechaniker oder Masseur – führen zum Ausschluss der jeweiligen Mannschaft. Selbst Roglic als Träger des Gelben Trikots könnte ausgeschlossen werden.