Eine Frage der Ehre

von Redaktion

Franzosen kämpfen um versöhnlichen Tour-Abschluss

La Tour-du-Pin – Ein älteres Ehepaar sitzt vor seinem Campingwagen und schiebt Frust. „Gut, du hast recht. Die Tour im September ist nicht dasselbe“, schimpft er und erhält Zuspruch von der gelangweilten Gattin: „Ich rufe die Arbeit an. Wir fahren nach Hause.“

Die Szene entstammt einer am Montag in der einflussreichen französischen Sporttageszeitung „L’Equipe“ veröffentlichen Karikatur – und dürfte sich in den vergangenen Tagen entlang der Straßen der Grande Nation häufig so oder so ähnlich abgespielt haben.

Die Hoffnungen der Gastgeber werden bei der Tour – wieder einmal – enttäuscht. Und so treffend, wie die Zeichnung die Stimmung der französischen Fans einfängt, so treffend fasst die Überschrift auch die sportliche Lage zusammen. „Les Francais largues sur le Tour“, was zu deutsch so viel bedeutet wie: „Die Franzosen werden bei der Tour abgehängt.“ Kein Franzose lag vor der 16. Etappe am Dienstag unter den besten Zehn. Vom ersten Tour-Sieg seit Bernard Hinault 1985 sind Hoffnungsträger wie Thibaut Pinot oder Julian Alaphilippe weit entfernt.

Romain Bardet, der als Zweiter (2016) und Dritter (2017) immerhin zwei Mal auf dem Podium in Paris stand, ist nach einem Sturz gar nicht mehr dabei. Auch für Guillaume Martin, zuletzt als einziger mit den Besten konkurrenzfähig, hat als Elfter nach dem zweiten Ruhetag kaum noch Chancen auf das Podium.

39 Franzosen sind bei der Tour 2020 am 29. August in Nizza gestartet – keine Nation stellt mehr Fahrer. Sie gestalten das Rennen in Fluchtgruppen – das ist aller Ehren wert. Sie sorgten nach 15 Etappen für einen Tagessieg durch Alaphilippe.

Dessen Coup am ersten Sonntag bedeutete das Gelbe Trikot, nach dem rauschenden Auftakt sah manch einer ihn schon als kommenden Gesamtsieger. Doch den Kampf um Gelb bestreiten längst andere. Slowenen, Kolumbianer, Spanier teilen die Top 10 größtenteils unter sich auf.

Einer, der neben Bardet sinnbildlich für eine enttäuschende Tour der Tricolore steht, ist Pinot. Der 30 Jahre alte Kapitän des Teams Groupama-FDJ zählte nach guter Vorbereitung wieder zu den ersten Anwärtern auf den Gesamtsieg – und fährt nun hinterher.

Von einem schweren Sturz auf der ersten Etappe in Nizza hat er sich nicht ausreichend erholt. „Es ist meine Pflicht, bis Paris zu kommen“, sagte Pinot. Ankommen, irgendwie, das ist der gesunkene Anspruch des großen Hoffnungsträgers. „Die Tour ist das einzige Rennen, bei dem wir nicht das Recht haben, aufzugeben. So lange ich weiterfahren kann, fahre ich weiter. Es ist eine Frage der Ehre“, sagte Pinot.

Er, Bardet, Alaphilippe und all die anderen werden 2021 einen neuen Angriff auf das schwere Erbe Hinaults starten – im Juli, wenn die Coronakrise es denn zulässt. Manch älterem Ehepaar am Streckenrand gefällt die Tour dann ohnehin besser.  sid

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