Die Nacht der Wahrheit gibt’s nur online

von Redaktion

Beim NHL-Draft werden die deutschen Eishockey-Toptalente Stützle, Peterka und Reichel hoch gehandelt

VON GÜNTER KLEIN

München – Bei einem normalen Draft 2020 wären Tim Stützle, John-Jason Peterka und Lukas Reichel, die drei deutschen Eishockey-Talente, alle 18, Ende Juli in Montreal gewesen. Im Anzug, vielleicht sogar mit Fliege. Auf jeden Fall: Große Bühne. Sie wären irgendwann aufgerufen worden und hätten sich das Trikot eines Clubs aus der National Hockey League, der legendären NHL, übergestreift. Davon, wer die Rechte an ihnen erwirbt, werden sie nun in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch erfahren – in einer Online-Übertragung. Aus einem Fernsehstudio in New Jersey. Stützle, Peterka und Reichel bleiben zuhause, Reisen geht nicht in Zeiten von Corona, die Talentziehung Draft ist heuer keine Präsenzveranstaltung.

„Ob live vor Ort oder per Kamera – es bleibt ein Event“, tröstet Tim Stützle sich. Die Scouts haben den Mannheimer als besten europäischen Feldspieler des Draft-Jahrgangs bewertet, deshalb darf er davon ausgehen, dass er früh genannt wird. Der kanadische Stürmer Alexis Lafreniere gilt als Draft-Favorit, doch schon dahinter könnte Stützle kommen. Die „New York Times“ schrieb neulich erst einen gefälligen Artikel über ihn. Junge Spieler, in die man Hoffnungen setzt, werden immer mit älteren Stars verglichen. Bei Stützle heißt es, er sei ein Typ wie Patrick Kane, die Tormaschine der Chicago Blackhawks. Motto: „Wagt es nicht, mich aufzuhalten.“

Stützle geht selbstbewusst in die Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Um 2 Uhr beginnt die Ziehung, er hat sich dazu die Mannschaft der Adler Mannheim eingeladen, das soll sein Dank sein an all die, die ihn in seinem ersten Profijahr in der DEL begleitet und ihm Gala-Spiele wie gegen Augsburg mit fünf Scorerpunkten ermöglicht haben. Auch zwei Fernsehteams kommen. Es liegt in der Luft, dass Historisches geschehen wird. Höchstgedrafteter deutscher Spieler war Leon Draisaitl 2014 auf Position drei. Stützle sagt: „Ich will so hoch wie Leon oder noch höher gezogen werden.“ Eine Top-Platzierung setzt nämlich auch den Verein unter Druck, in den Nachwuchsmann sofort massiv zu investieren. Stützle sagt: „Mein Ziel ist es, nächste Saison in der NHL zu spielen und mich einzuarbeiten.“ Er spricht von „Kanada und USA“ als den möglichen Zielen. Das ergibt sich aus der festgelegten Reihung beim Draft. Zuerst dürfen die schwächeren Teams zugreifen, wobei die exakte Reihenfolge durch eine Lotterie festgelegt wurde. Zuerst sind die New York Rangers dran, an zweiter Stelle die Los Angeles Kings mit ihrem deutschen Co-Trainer Marco Sturm, an dritter Stelle die Ottawa Senators aus Kanada. „Ich habe mit allen 31 Teams gesprochen“, verrät Stützle, „mit einigen öfter“.

Auch beim Münchner Peterka und bei dem in Nürnberg geborenen und in Rosenheim aufgewachsenen Reichel war es so: Scouts verfolgten ihre Spiele in der DEL. Kontakt gab es danach zwischen Kabine und Mannschaftsbus, „in der Corona-Zeit lief dann viel über Facetime“, so John-Jason Peterka, den der EHC München derzeit an den EC Salzburg ausgeliehen hat, damit er Spielpraxis bekommt. Peterka wurde bei den Feldspielern aus Europa auf Rang sieben gesetzt, Reichel, dessen Onkel Robert in den 90er-Jahren ein Star in der NHL war, auf elf.

Auch Bundestrainer Toni Söderholm spielt eine Rolle beim Draft. Der Finne war für Scouts und Team-Repräsentanten aus der NHL Ansprechpartner. „Die Fragen, die mir gestellt wurden“, sagt er, „deuten darauf hin, dass es in die erste und zweite Runde gehen wird. Das waren keine generellen Fragen mehr, sondern sehr spezifische.“ Söderholm sieht die Chancen „auf drei Deutsche in der ersten Runde sehr gut. Es wäre ein großer Tag für das deutsche Eishockey, wenn es dazu käme.“

Gedraftet zu werden bedeutet allerdings nicht, dass der Weg nach Nordamerika sofort frei ist. Manchmal verfolgen NHL-Clubs eine Langzeitstrategie wie die Detroit Red Wings, die voriges Jahr den Mannheimer Verteidiger Moritz Seider an Nummer sechs zogen, ihn aber erst einmal eine Saison im Farmteam spielen ließen.

Und die Corona-Lage hat alles verkompliziert. Unklar ist, wann die nächste NHL-Saison beginnt und ob Spieler, die in Europa ein Vertragsverhältnis haben, derzeit überhaupt wechseln können. Alle drei deutschen Jungstars sind hier an ihre Vereine noch länger gebunden.

Dennoch geht man davon aus, dass ab dem frühen Mittwochmorgen die NHL ihren Karriereweg bestimmen wird. Stützle: „Ich warte den Draft ab – und was die Mannschaft sagen wird, wo ich weiterspiele.“

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