München – Wie blöd es sein kann, wenn man plötzlich in anderer Rolle gebraucht wird, kann wohl niemand so gut nachfühlen wie Manuel Neuer. Bis heute ist es eigentlich unvorstellbar, dass in einem Champions-League-Finale vor heimischem Publikum der eigene Torhüter zum Elfmeter antreten muss, weil sich unter den Feldspielern keine fünf Freiwilligen finden. Neuer traf in diesem „Finale dahoam“ 2012 gegen den FC Chelsea, das war nicht das Problem. Aber er sagt heute, mit genügend Abstand und zwei Triple-Triumphen in der Tasche, offen, dass dieser Strafstoß „nicht unbedingt ein Wunschtraum“ gewesen sei.
Die Geschichte von damals ist oft genug erzählt. Trainer Jupp Heynckes hatte im Vorfeld schon damit gerechnet, dass seine Mannschaft noch nicht reif genug sei für den Henkelpott, seine Triple-Achse wuchs erst im Jahr danach zusammen. Der Triumph von Wembley schließlich war das Resultat starker Führung auf dem Platz, angefangen bei Neuer, fortgeführt über Kapitän Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller. Das Gerüst stand damals so gut wie in der Endphase der letzten Saison unter Hansi Flick. Ein Erfolgsrezept, auf das der Bayern-Trainer auch heuer setzen will, kann und wird.
Es ist kein Geheimnis, dass Flick die Ziele in dieser Corona-Spielzeit erst jetzt definieren will, wo die XXL-Transferphase endlich rum ist. Die letzten Tage und Wochen waren für den 55-Jährigen nicht einfach, auch wenn seine Wünsche und Vorstellungen in der Vorstandsetage klar waren. Flick hatte sich die Positionen rausgesucht, die nicht doppelt besetzt waren. Er forderte konkrete Verstärkungen, um Breite zu schaffen, müde Spieler entlasten zu können. Aber er hatte auch stets seine Achse im Blick, von der er nach den Last-Minute-Zugängen von Marc Roca, Bouna Sarr, Douglas Costa und Eric Maxim Choupo-Moting sagen kann, dass sie steht.
Für Neuer, David Alaba als Abwehrchef und Robert Lewandowski ganz vorne ändert sich die Ausgangslage nicht. Joshua Kimmich und Thomas Müller aber können durchaus als Gewinner der Transferperiode gesehen werden. Flick hatte ein besonderes Augenmerk auf die Position rechts hinten sowie den offensiven Flügel gelegt, weil er mit aller Macht vermeiden wollte, dass einer seiner beiden verlängerten Arme im Mittelfeld´auf einem anderen Posten aushelfen muss. Weil Benjamin Pavard in Sarr nun einen offiziellen Stellvertreter hat und Costa eine weitere Option auf den Außenbahnen bietet, dürfen Kimmich und Müller in Zukunft in aller Regel dort spielen, wo sie am wertvollsten sind. Kimmich auf der Sechs, Müller zentral offensiv. Mit den Flügeln haben die beiden nichts mehr zu tun.
Flick gilt wie Heynckes als Verfechter dieser Hierarchie-Achse, auf und neben dem Platz. Zusätzlich zu den drei Kapitänen Neuer, Müller und Lewandowski gehören nach dem Thiago-Abgang Alaba und Kimmich dem Mannschaftsrat an. Der Austausch ist regelmäßig, das gegenseitige Vertrauen groß. Das Gremium soll sich etwa für die Verpflichtung von Costa eingesetzt haben, während Flick ein Werben um Kai Havertz früh unterbunden hat. Seine Begründung: Er hat Müller.
Der fühlt sich pudelwohl, genau wie Kimmich, über den Karl-Heinz Rummenigge sagt: „So einen habe ich noch nie gesehen. Eine unglaubliche Winner-Einstellung.“ Wegducken im Elfmeterschießen? Für Achsen-Spieler: undenkbar. HANNA RAIF