München – Was macht eigentlich der bayerische Ukrainer Anatoliy Timoschtschuk (41)? Das Mitglied der ersten Triple-Bayern (kickte von 2009 bis 2013 in München), ist mittlerweile unter die Trainer gegangen. Nach seinem Karriereende 2016 heuerte er bei seinem Ex-Club, dem russischen Erstligisten Zenit St. Petersburg, an und gibt seitdem den Co unter Sergei Semak. Welches Fazit er über seine vier Jahre in München zieht, welche Figur ihn geprägt hat und was die DFB-Auswahl am Samstag gegen dezimierte Ukrainer zu erwarten hat, verrät Timostschuk im Interview.
Herr Timoschtschuk, was macht Ihre Trainerkarriere?
Es ging alles ganz schnell. An einem Tag war ich noch Spieler, am nächsten bereits Trainer. Aber ich habe über meine gesamte Karriere tolle Vorbilder gehabt, von denen ich etwas mitnehmen konnte. Nachdem ich meinen Fußballlehrer gemacht hatte, fühle ich mich bereit. Dass ich nun bei Zenit, meinem Club, anfangen konnte, erleichtert natürlich einiges.
Erinnern Sie sich oft an Ihre Zeit beim FC Bayern?
In der Tat. Es gibt einige Momente, die mich geprägt haben. Da wäre zum Beispiel meine erste Auswärtsfahrt mit dem Klub nach Dortmund. In diesem Stadion zu spielen und dann auch noch 5:1 zu gewinnen, war außergewöhnlich. Das dramatischste Erlebnis war zweifelsohne die Niederlage im Champions-League-Finale 2012. Ich würde nicht sagen, dass wir diese Partie aufgrund unserer Leistung oder der Emotionen verloren haben. So oder so haben wir alle mit dem Finalsieg gegen den BVB im folgenden Jahr Frieden geschlossen mit der schmerzhaften Niederlage in der Arena. Das bleibt das ganze Leben lang.
Inwieweit haben Sie ihre Trainer beim FCB geprägt?
Van Gaal hat Eindruck hinterlassen. Er ist ein Vollprofi – und auch wenn viele stets von seinem schweren Charakter gesprochen hatten, hat mich seine Art so einiges gelehrt. Auch Heynckes ist ein großartiger Trainer. Er hat es geschafft, dass man den Verein nicht als Fußballclub, sondern vielmehr als Familie wahrgenommen hat. Und auch wenn beide unterschiedlich wirken, so hatten sie doch gerade in sportlichen Belangen sehr ähnliche Ansätze.
Wie bewerten Sie die weitere Entwicklung des Clubs in den vergangenen Jahren?
Es sind sieben Jahre seit unserem ersten Triple damals ins Land gestrichen, dennoch bin ich der Meinung, dass sich beide Mannschaften speziell im Charakter sehr nahe sind. Beide Teams haben das Triple gewonnen, weil sie einen Teamspirit entwickelt haben, der alles überstrahlt hat. Nur mithilfe dieser Siegermentalität und dem Willen, alles für diesen Club zu geben, erreicht man diesen Erfolg. Hinzu kommt, dass die Führung es geschafft hat, einen quasi nahtlosen Übergang von den alten zu den neuen Bayern hinzubekommen. Die sportliche Leitung ist konstant auf der Suche nach neuen Spielern, die das Niveau weiter anheben. Der Wille zahlt sich aus.
Braucht die Ukraine am Samstag auch ganz viel Willen, wenn es in der Nations League gegen das DFB-Team geht?
Ich denke schon. Leider steht ja auch dieses Spiel im Zeichen der Pandemie, die Ukraine muss ja auch auf über ein Dutzend Spieler verzichten. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass es ein interessantes Spiel werden wird – auch wenn die Ukraine in Frankreich 1:7 verloren hat. Es geht darum, gegen einen genauso guten Gegner eine Trotzreaktion zu zeigen und sich mit aller Kraft gegen die Vielzahl an widrigen Umständen zu stemmen. Ist man bereit für diesen Kraftaufwand, dann wird es bestimmt nicht der von allen erwartete Spaziergang aus Sicht der Deutschen.
Auf wen muss die DFB-Auswahl besonders Acht geben?
Leistungsträger wie Zinchenko oder Konoplyanka sind ja nicht mit von der Partie, im Angriff ist aber eigentlich so gut wie jeder gefährlich. Es ist schon bitter, dass die Säulen dieser Mannschaft nicht dabei sind, sonst bin ich davon überzeugt, dass die Deutschen es beileibe nicht einfach hätten. So oder so kann der ukrainische Fußball mit seiner Entwicklung aber sehr zufrieden sein. Viele Spieler haben im Ausland Fuß gefasst und es werden immer mehr davon mit den großen Vereinen in Europa in Verbindung gebracht. Der Prozess ist sichtbar. Und das wird er auch bleiben, da bin ich sicher.
Interview: José Carlos Menzel López