Sind wir nur noch Mittelmaß?

von Redaktion

Schwächelndes DFB-Team: Flick verteidigt Löw – doch es bleiben Fragen

VON MANUEL BONKE

Köln – Ausufernde Experten-Kritik von ehemaligen Weltmeistern, ein überflüssiges Testspiel gegen die Türkei, Reisen vom einen Corona-Risikogebiet ins nächste. Der zurückliegende DFB-Lehrgang, der am Dienstagabend mit einem wilden 3:3 gegen die Schweiz endete, war für Joachim Löw alles andere als eine ruhige Arbeitswoche. Kein Wunder also, dass der Bundestrainer irgendwann Dampf ablassen musste. Das tat er im letzten Nations-League-Auftritt seiner Mannschaft in Köln in der 89. Minute: Nach einem Fehlpass von Julian Draxler in aussichtsreicher Position im Strafraum schimpfte Löw und schlug mit der Faust gegen das Dach der Auswechselbank.

Die letzte Großchance war vergeben – und somit auch der angestrebte Sieg. Vielleicht hätte ein 4:3-Erfolg auch nur unnötig über das aktuelle Leistungsvermögen der Nationalmannschaft hinweg getäuscht. So stellt man sich die Frage: Ist Deutschland nur noch Mittelmaß? Stand jetzt: Ja! Und das sind die Gründe.

Die Systemfrage ist nicht geklärt: Dreier-Reihe? Fünfer-Verbund? Viererkette? Welche Abwehformation Löw bevorzugt, weiß er selbst nicht. Noch vor dem Schweiz-Spiel klang es ganz danach, als sei die Dreierkette in Stein gemeißelt. Dann schickte der Bundestrainer doch vier Abwehrspieler aufs Feld. In Löws Augen ist das System ohnehin irrelevant, das wurde in den vergangenen zehn Tagen anhand seiner Äußerungen deutlich. Ihm geht es darum, dass seine Mannschaft die Philosophie umsetzt, die das Trainerteam vorgibt. Die taktische Grundformation ist nur Mittel zum Zweck. Löw möchte variabel sein. Das Problem hierbei liegt auf der Hand: Auf der einen Seite soll die DFB-Elf durch ihre Flexibilität unberechenbar sein, auf der anderen Seite soll sie sich bis zum Start der Europameisterschaft im kommende Sommer weitgehend eingespielt haben. Vor allem dann, wenn Löw sagt: „Das EM-Halbfinale bleibt das Minimalziel.“

Der Triple-Triumph des FC Bayern unter Löws Ex-Co-Trainer Hansi Flick sollte ihm gezeigt haben, wie wichtig es ist, dass sich eine Mannschaft in einem System einspielt. Nur so können die im modernen Fußball wichtigen Automatismen funktionieren. Das sehen auch die Kritiker um Lothar Matthäus so. Rückendeckung erhält Löw von Flick. „Ich habe mit der Nati auch schon solche Momente erlebt, wo man ausprobiert hat“, sagte der Bayern-Coach gestern. „Das ist die Pflicht eines Trainers. Die Situation ist für den Bundestrainer und für alle andere nicht einfach. Es sind Spiele an Spiele und man hat kaum Zeit, etwas einzustudieren.“ Flicks Fazit: „Was aktuell passiert, finde ich sehr übertrieben. Jogi hat einen sensationellen Job gemacht, und wenn es dann mal nicht so läuft, kommen viele hervor und üben Kritik – viele auch, die schon seit 30 Jahren keinen Ball an den Füßen hatten.“ Die Abwehr ist (noch) führungslos: Niklas Süle soll die Defensive bei der anstehenden EM als Abwehrchef dirigieren. Daran ließ der Bundestrainer keinen Zweifel, als er nach dem 3:3 gegen die Schweiz konkret nach Namen mit Defensiv-Anführer-Qualitäten gefragt wurde, nannte er als erstes den Bayern-Profi: „Niklas Süle ist ein Spieler, der zuletzt in unserer Abwehr immer gesetzt war. Wenn er gesund ist, ist der Niklas natürlich ein sehr wichtiger Spieler.“ Allerdings hat Süle nach seinem Kreuzbandriss sein absolutes Leistungsniveau verständlicherweise noch nicht erreicht. In München hätte er in diese Rolle ebenfalls hineinwachsen sollen, doch dann verletzt er sich. Beim FC Bayern hat mittlerweile David Alaba die Abwehrchef-Rolle inne. Beim DFB muss Süle nun die Rolle als unumstrittener Abwehrchef annehmen. Der Bayern-Block alleine reicht nicht aus: Die Hoffnungen waren groß, nachdem die Münchner Triple-Sieger um Kapitän Manuel Neuer zurückkehrten. Doch nach den Partien gegen die Ukraine und die Schweiz muss man sagen: Ein starker Bayern-Block alleine genügt der DFB-Auswahl nicht. Kein Wunder, beim Rekordmeister spielen internationale Top-Stars wie Robert Lewandowski oder Kingsley Coman, die in die Bresche springen, wenn es mal nicht so läuft. Daher sind nun in der Nationalmannschaft die Kollegen wie Timo Werner, Toni Kroos oder Kai Havertz gefordert, die Münchner zu entlasten.

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