München – 27 Jahre jung ist Elisabeth Seitz seit letzter Woche – oder muss man im Turnen besser sagen: alt? „Ich weiß, dass ich mich vor acht bis zehn Jahren anders gefühlt habe“, sagte die WM-Dritte von 2018, und sie weiß auch, „dass ich in vier, fünf Jahren nicht mehr so belastbar sein werde wie jetzt“. Sportler werden nicht allzu gerne auf ihr Karriereende angesprochen, aber man kann diese Worte der besten deutschen Turnerin schon interpretieren. Sie bedeuten: Die Olympischen Spiele 2021 werden ihre letzten sein. Wenn sie denn stattfinden.
Auch Elisabeth Seitz verfolgt die Nachrichten aus Japan natürlich. Auch sie hat also gehört, dass die Ausrichter das Großevent in Tokio ab Ende Juli unter allen Umständen durchziehen wollen. Die Erfahrung aus dem laufenden Jahr aber lehrt die Stuttgarterin, sich lieber mit dem Hier und Jetzt zu beschäftigen, als zu weit vorauszublicken. Die Verschiebung der Spiele 2020 sei so ein „Schock“ gewesen, dass Seitz sich seitdem besser auf die Pandemie und all ihre Begleiterscheinungen für Berufssportler eingestellt hat. Dass der DTB die Teilnahme an der EM in der Türkei absagte und nun auch die Deutschen Meisterschaften am vergangenen Wochenende kurzfristig gestrichen wurden, konnte sie schon besser verkraften. Und mit Blick auf Tokio sagt sie: „Ich versuche, nicht daran zu denken. Das strengt nur unnötig an.“
Die Köpfe der deutschen Turnerinnen sind ohnehin schon arg strapaziert worden seit März. Denn eigentlich wurde alles, was sie sich in puncto Trainingssteuerung und Wettkampfvorbereitung vorgenommen haben, nach und nach über den Haufen geworfen. Kaum war geplant, musste umdisponiert werden; kaum war ein Ereignis terminiert, wurde es schon wieder abgesagt. Als nun auch die nationalen Titelkämpfe dem Lockdown zum Opfer fielen, war vor allem Bundestrainerin Ulla Koch besorgt, die Angst vor einem Motivationsloch bei ihren Athletinnen begleitet die 65-Jährige. Zumindest bei Seitz allerdings muss sich die Chefin keine Gedanken machen. „Mein Fitnesszustand ist auf sehr gutem Level. Und das stimmt mich grundzufrieden“, sagt die Stufenbarren-Spezialistin.
Man nimmt ihr das ab, obwohl Seitz sich selbst als „Rampensau“ bezeichnet. Sie, die bei ihren schmissigen Boden-Küren vom Klatschen des Publikums lebt, die stets als Strahlefrau des DTB-Teams auftritt, hat sich im Training neue Reize gesucht. „Ich habe eigentlich das ganze Jahr über die Wettkämpfe im Kopf. Allein der Gedanke lässt mich aufblühen“, sagt sie. Nun musste die Lehramtsstudentin lernen, „mit mir selbst umzugehen“. Ein Prozess sei das gewesen, sagt sie, einer, der sich zog. Geholfen hat neben Koch und den Heimtrainern auch ein Mental-Coach. Seitz ist eigentlich keine, die sich mit Psycho-Tricks auf Großereignisse vorbereitet. Sorgen und Ängste in der Corona-Krise aber konnten ihr in Gesprächen genommen werden: „Das alles mal rauszulassen, tut einfach gut.“
Es ist doch auffällig, dass das Wort „Fußball“ in einem Gespräch mit Seitz kein einziges Mal fällt. Neid auf die anderen, Missgunst gegenüber den besser Gestellten – das passt nicht zur optimistischen Frontfrau. Dass die Zeiten schwer sind, so schwer, wie in den letzten knapp zehn Jahren an der Spitze des deutschen Turnens nicht, sagt sie offen. Aber man kann halt auch das Positive sehen – und sich im fortgeschrittenen Turn-Alter neu erfinden.
Seitz freut sich daher auf alles, was kommt. Am meisten natürlich auf Tokio 2021. Nachfrage: Dann ist Schluss? Antwort: „In Paris 2024 wäre ich fast 30!“ HANNA RAIF