Leipzig – Die deutsche Nationalmannschaft ist dabei, sich was einzubrocken: eine weitere Belastung, eine zusätzliche Belegung im Kalender. Sie führt in der Nations League vor dem letzten Spieltag erstmals die Tabelle ihrer Gruppe an, und um sie zu gewinnen, genügt am Dienstag (20.45 Uhr/ARD) in Sevilla gegen Spanien ein Unentschieden, das Lieblingsresultat beim DFB seit Beginn der Coronakrise. Die Mannschaft wäre dann qualifiziert fürs „Final Four“-Turnier der Nations League, für das die UEFA sich noch nicht mal getraut hat, ein paar Tage zu reservieren. Juni 2021 wäre normal – aber da soll ja die EM 2020 nachgeholt werden. Oktober ’21 dann – man hört schon, wie die Vereine fluchen.
Aber Joachim Löw denkt an diesen möglichen Konflikt erst mal nicht. Er versichert sogar, „dass ich den Gruppensieg völlig außen vor lasse. Ich sehe einfach das Spiel gegen Spanien.“ Das soll gut werden, der Mannschaft das Gefühl geben, dass ihre Entwicklung voranschreitet, es soll zeigen, dass schon alles seine Berechtigung hat, was der Bundestrainer veranstaltet. Das Bild, das Löw von sich hat, ist das des souveränen Regenten, der über schnöden Platzierungen und Tagesaktualitäten steht. Dass die Kritik an ihm seit 2018 massiv angewachsen ist, interpretiert er als das normale Wellental: Man ist nicht immer gleich beliebt als Fußball-Bundeskanzler.
Zumindest hilft ihm das 3:1 gegen die Ukraine, mit dem man an Spanien vorbeizog, bei der Umgestaltung der Nationalmannschaft nach seinen Idealen. Thema nach Schlusspfiff in Leipzig war mal nicht, wie das Spiel mit den in die Verbannung geschickten Müller, Boateng und Hummels gelaufen wäre, sondern dass die neue Mannschaft tatsächlich etwas Besonderes darstellt. Die vorderste Reihe mit Timo Werner, dem doppelten Torschützen (33., 64.), Leroy Sané (traf zum 1:1 in der 23. Minute) und Serge Gnabry, für den es im Abschluss unglücklich lief, gefiel auch Andrej Schewtschenko. Der ukrainische Nationaltrainer (44) war als Stürmer mal die Attraktion beim AC Mailand, Boris Becker vermarktete ihn in dieser Glanzzeit. „Raketen“ nennt er die drei Deutschen, „sie sind schnelle Spieler, sie können variieren, sie tauchen im Zentrum und auf den Flügeln auf“. Er sei „überzeugt: Diese starke und junge Mannschaft kann sich die höchsten Ziele setzen.“
Im insgesamt neunten Match des zum zweiten Mal ausgetragenen Formats Nations League war es der zweite Sieg, ein überzeugenderer auch als der erste (im Oktober 2:1 in der Ukraine), doch trotzdem keine Vorstellung ohne Makel. Mit ihrem Raketen-Antrieb im Angriff ist die Mannschaft auf Umschaltsituationen angewiesen, wenn sie dagegen „handballartig um den Sechzehner herum“ (Timo Werner) spielen muss, tut sie sich schwer. Der erste lichte Moment des Abends war, als sich die DEB-Elf schlagartig in den FC Bayern verwandelte: Balleroberung von Leon Goretzka, Leroy Sané ist schon auf bestem Laufweg – so schnell konnten die Ukrainer nicht schauen, wie die Deutschen spielten. Das 1:1.
Es hätten noch viel mehr Tore fallen können. Beiderseits. „Wir hatten unsere Momente“, sagte Schewtschenko. Das waren drei Pfostentreffer. Manuel Neuer, der nach Länderspielen mit Legende Sepp Maier gleichzog, hätte durchaus ein Vier-Gegentreffer-Spiel erleben können. Ohne dass in der Viererrette plus Absicherer Robin Koch davor Chaos geherrscht hätte.
Antonio Rüdiger, einer der Verteidiger, wird in Spanien fehlen, er ist nach der zweiten Gelben Karte gesperrt. Ins Mittelfeld kehrt Toni Kroos zurück, der am Samstag gesperrt war.
Löw kündigt an, „nicht irgendwas verteidigen zu wollen“, also nicht auf Unentschieden zu spielen. „Der Anspruch ist es, hinzufahren und zu gewinnen.“ Wem das gelingt, der muss nicht über die reden, die nicht mit dabei waren.